„Bilder im Kopf“ – Vorbericht WIEN MODERN 2017

Wiederum geht es einen ganzen Monat lang bei 106 Veranstaltungen an 26 Spielstätten, in über 50 Produktionen mit 40 Ensembles, Orchestern und Chören (darunter 73 Ur- und Erstaufführungen) in der 30. Ausgabe des Festivals WIEN MODERN um „Bilder im Kopf“. Der künstlerische Leiter BERNHARD GÜNTHER versichert: Imagination, Kopfkino, frei fliegende Assoziationen – hier ist Musik als zeitgenössische Kunstform ganz in ihrem Element”. Neben KONZERTHAUS, MUSIKVEREIN und MUSEUMSQUARTIER finden sich auch Galerien, Museen und Kinos, ein Wirtshaus auf der Schmelz, die Kirche in Alt-Erlaa und der Wiener Prater im Programm.  

Eine Präsentation dieses Programms fand am 19. Oktober 2017 in der französischen Botschaft statt – nicht zuletzt, weil die neue französische Musik mehrerer Generationen, darunter die Spektralmusik von Gérard Grisey oder etwa von Hugues Dufourt, einen der Schwerpunkte der Veranstaltungen bildet. Aber, so Bernhard Günther: „Es ist ein extrem und ganz bewusst widersprüchliches Festival. Man soll nach diesem Monat eben nicht das Gefühl haben, man weiß jetzt, wie zeitgenössische Musik ist … Die Vielfalt von Haltungen und der Farbenreichtum machen zeitgenössische Musik zu etwas Besonderem. Machen Sie die Augen zu, und sehen Sie die Bilder im Kopf.“  In der Übersicht unter www.wienmodern.at finden sich vom Festival selbst gut aufbereitete Tag-für-Tag-Übersichten und auch mica – music austria veröffentlicht in seinen Musiknachrichten unter dem Stichwort Wien Modern 2017 bereits seit Juni immer wieder Vorberichte. Im Folgenden sollen die Höhepunkte der ersten zehn Tage des Festivals geschildert werden.

J’accuse, 31. Oktober

J’accuse / Philippe Schoeller (c) Franck Ferville

Zum Auftakt am Dienstag, dem 31. Oktober, gibt es ganz großes Kino im Wiener Konzerthaus: Schon vor der „offiziellen“ Eröffnung von Wien Modern bringt das Festival die Österreichpremiere der neu restaurierten Fassung des Filmklassikers „J’accuse“. Der 1918/19 entstandene Stummfilm von Abel Gance gilt als frühes Beispiel des pazifistischen Kinos. Er spiegelt ein privates Schicksal in den Schrecken des Ersten Weltkriegs wider, eine Welt zwischen Wirklichkeit und Illusion. Gance bekam eine Drehgenehmigung an Kriegsschauplätzen, ohne den Militärs zu verraten, dass sich die Eifersuchtsgeschichte zur Anklage gegen den Krieg entwickelt. Gedreht wurde u. a. auf den Schlachtfeldern bei Verdun. Schon die Titelsequenz des Films ist unerhört. Sie zeigt ein Heer von Soldaten auf offenem Feld, die, einer geheimnisvollen Choreografie folgend, die Buchstaben des Satzes „J’accuse“ bilden. Dieser Titel taucht in unterschiedlicher Gestalt immer wieder im Film auf.

2013/14 hat der französische Komponist Philippe Schoeller dazu eine neue Filmmusik für großes Sinfonieorchester und Elektronik von atmosphärischer Sogwirkung komponiert, er wird bei der Wien-Modern-Aufführung mit den Wiener Symphonikern unter dem Dirigat von Peter Rundel persönlich an den Reglern der Live-Elektronik sitzen.

Noche de los muertos, 1. November

Noche de los muertos (c) Greg Pope

Noch eine weitere Eröffnung vor dem eigentlichen Eröffnungskonzert gibt es, gestaltet auch mit einem illustren Aufgebot von österreichischen Musik- und Kunstschaffenden: In sechs Sets einer langen Nacht erzeugt die Video- und Klangkünstlerin Billy Roisz im Echoraum in „Noche de los muertos“ einen bunten Film noir im Kopf. Mit dabei bei diesem ganz in der Tradition des buntesten Feiertags in Mexiko stehenden, von dem in der Elektronik- und Improvisationsszene tätigen Institut 5haus ausgerichteten Wiener Fest sind Greg Pope an
16-mm-Projektoren und Elektronik, die Medienkünstler Oliver Stotz und Sabine Marte mit Videoprojektionen und instrumentaler und Synthesizer-Musik, zwei Solodarbietungen der E-Gitarristen Nina Garcia und Burkhard Stangl, ein Duo von dieb13 an den Turntables und dem Schlagzeuger Tony Buck, ein gemeinsamer Auftritt von  Angélica Castelló mit Paetzold-Flöte, Elektronik und Kassetten sowie  Billy Roisz, Liz Allbee und Guro S. Moe mit Stimmen, Trompete und Bass.

Eröffnungskonzert, 2. November

Im eigentlichen Eröffnungskonzert zwei Tage später präsentiert das Radio-Symphonieorchester Wien unter Cornelius Meister im Wiener Konzerthaus mit dem Arnold Schoenberg Chor, den Wiener Sängerknaben und herausragenden Solistinnen und Solisten Hans Werner Henzes Revolutionsoratorium „Das Floß der Medusa“ rund um die Geschichte der 1816 gesunkenen Fregatte Medusa, verewigt auf dem berühmten Bild von Théodore Géricault. Es wurde 1968 vom Komponisten auch zu einem Requiem für die Ikone der kubanischen Revolution Che Guevara gemacht, der in Bolivien erschossen wurde. Mit Hồ-Chí-Minh-Rhythmen versehen wurde es in Hamburg nicht uraufgeführt, weil der Chor sich nach der Generalprobe weigerte, unter der roten Fahne zu singen. Die Uraufführung fand erst 1971 in Wien statt.

Das Floss der Medusa / Hans Werner Henze (c) Archiv

Dass uns Hans Werner Henzes eigentlich in sakraler Form organisiertes Oratorium mehr denn je etwas angeht, liegt nicht so sehr an den im Jahr 1968 mitkomponierten Hồ-Chí-Minh-Rufen am Ende, sondern an dem geschilderten grausigen Geschehen, das heute Tag für Tag in einem gekenterten Boot stattfinden kann. In dessen musikalischer und auch szenischer Verdeutlichung stehen auf der einen Seite die Lebenden samt dem Bariton Matthias Goerne auf dem Podium, der auf dem Gemälde Géricaults nach einem Rettungsschiff winkt, in der Mitte steht der Sprecher Sven-Eric Bechtolf als Fährmann Charon. Nach und nach wechseln fast alle Sängerinnen und Sänger auf die Seite der Toten hinüber, wo die Sopranistin Sarah Wegener „La Mort“ singt.

Burning Bright, 3. November, und The Beautiful Square, 4. November

Burning Brigh Hugues Dufourt (c) Christophe Daguet

In Bühne und Licht von Enrico Bagnoli gibt es dann einen opulenten Einstieg in die „Musique spectrale“ mit „Burning Bright“ (MuseumsQuartier, Halle G) des Pariser Komponisten Hugues Dufourt, der das Stück zum fünfzigsten Geburtstag von Les Percussions de Strasbourg „als ein einziges Stück, wie ein immenses Adagio in der Art von Bruckner“ komponierte (Dufourt). Seine düstere Vision – der Titel entstammt den „Songs of Experience“, die der englische Dichter William Blake seinen „Songs of Innocence“ folgen ließ – bricht mit den traditionellen formalen Techniken der Konturiertheit und Abschließung von Schlagwerk-Arrangements, wie man sie bis ins 20. Jahrhundert verwendete.

Mit dem etwa einstündigen Klavierquartett „The Beautiful Square“ bringt Komponist Klaus Lang am 4. November bereits am Nachmittag (16:00 Uhr) in der Alten Schmiede ein Werk zur Uraufführung, in dem er in Zusammenarbeit mit der Medienkünstlerin Sabine Maier das Verhältnis von visueller Raumerfahrung und Klangraum erkundet. Das in Basel beheimatete Mondrian Ensemble wird in diese experimentelle Form des Konzerts und in das inszenierte Geschehen von Licht, Raum und Bewegung einbezogen. Durch ihre Mitgliedschaft etwa im Ensemble PHACE sind die Geigerin Ivana Pristašová und die Bratschistin Petra Ackermann auch in Wien bestens bekannt, mit dabei sind noch die schwedische Cellistin Karolina Öhmann, die in Basel lebt, und die auch am Harmonium spielende Pianistin Tamriko Kordzaia.

Claudio-Abbado-Konzert, 4. November

Das nach dem Wien-Modern-Begründer benannte Claudio-Abbado-Konzert am 4. November im Wiener Konzerthaus ist das erste von drei großen Wien-Modern-Projekten im Rahmen von „200 Jahre mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien“. Das gemeinsame Orchester wurde in Kooperation zwischen dem Webern Symphonieorchester der mdw und Studierenden des Conservatoire national supérieur de musique et de danse Paris (CNSM) gebildet. Es spielt ein Akkordeonkonzert von Georges Aperghis, in dem dem Akkordeon im Verlauf des Stücks sein riesenhafter Verwandter, die Orgel, zur Seite gestellt wird. „Le passage du Styx d’après Patinir“ von Hugues Dufourt ist von einem Gemälde des niederländischen Renaissance-Malers Joachim Patinir angeregt, in dem der Fährmann Charon eine Seele ins Totenreich überführt. Schließlich präsentiert die in Wien lebende Komponistin Iris ter Schiphorst eine Uraufführung mit einem höchst aktuellen Thema: „Das Imaginäre nach Lacan für Darstellerin, Orchester und Live-Elektronik“ verarbeitet Texte von Helga Utz nach altarabischen Dichtungen auf mehrfache Weise. Sängerin Salome Kammer singt die Gedichte wahlweise in westlichem und arabischem Outfit. Welche Bilder lösen verschleierte Frauen 2017 in den Köpfen aus?

Chinese Opera, 5. November

Chinese Opera Peter Eoetvoes (c) Marco Borggreve

Peter Eötvös steht persönlich am Dirigentenpult im Wiener Konzerthaus beim ihm gewidmeten Porträtkonzert des Klangforums Wien unter dem Titel „Chinese Opera“. In Budapest interessierte sich Peter Eötvös als 16-Jähriger nicht nur für den Warschauer Herbst und die Darmstädter Avantgarde, sondern auch für Film- und Theatermusik und betätigte sich in diesen Genres. Als der Mitarbeiter von Stockhausen in Köln und Boulez in Paris durch einen Zufall in den Achtzigerjahren von Kent Nagano den ersten Opernauftrag erhielt, wunderte er sich, da er gegen die Oper und den Opernbetrieb eher eine Abneigung empfand. Im Gefolge des farbensprühenden, im wörtlichen Sinn fantastischen Werks, eben seiner „Chinese Opera“ aus dem Jahr 1985/96, die keine ist und die ganz ohne Bühnenbild, Kostüme und Film an rituelle chinesische Musik nur als fernes Zitat erinnert, entstanden seither nicht weniger als zehn Opern. Zwei weitere im Abstand von je zehn Jahren entstandene Werke („Shadows“ für Flöte, Klarinette und Kammerorchester und „Sonata per sei“) stehen ebenfalls auf dem Programm dieses Konzerts.

Atlas der abgelegenen Inseln, ab 6. November

Für Kinder ab elf Jahren und Erwachsene gibt es im Dschungel Wien wieder ein Musiktheaterstück: Komponist Hannes Dufek entwickelte gemeinsam mit der Regisseurin Sara Ostertag das Stück „Atlas der abgelegenen Inseln“ nach einem Buch von Judith Schalansky. Zwei Musiker, eine Tänzerin und eine Schauspielerin bereisen die Welt, genauer gesagt: Sie reisen ans Ende der uns bekannten Welt, zu abgelegenen Inseln fernab unserer Aufmerksamkeit. Inseln, die man erlebt, wenn man sich ganz auf die eigene Vorstellungskraft einlässt.

Die Reise, ab 6. November

Die Reise (c) Illustration Kristine Tornquist/sirene

Das sirene operntheater spielt „Die Reise“ von Jean Barraqué im Mondschein, dem ehemaligen k. u. k. Post- und Telegraphenamt in der Zollergasse. Das sind vor Kurzem wiederentdeckte, lange verschollene Schauspielmusiken zu Theaterminiaturen von Jean Thibaudeau aus den Jahren 1958/59, die dem absurden Theater nahestehen. Sie wurden von dem Schüler von Jean Langlais und Olivier Messiaen, der 1973 mit nur 45 Jahren starb, zurückgehalten und blieben unveröffentlicht. Diese assoziationsreichen Musiken werfen ein ganz neues Licht auf die immanente Bildhaftigkeit serieller Musik und widersprechen dem Klischee der Abstraktheit, das der Nachkriegsavantgarde gelegentlich zu Unrecht anhaftet. „Rekonstruktion von Text und Musik, die in Tranchen kamen, war eine Abenteuerreise für sich“, erzählen die Produzenten von sirene, darunter die Regisseurin Helga Utz. In den Szenen der „Reise“ entstehen Assoziationsketten und Bilder, die sich auflösen, bevor sie deutlich werden.  

An die Grenze, 11. November

An die Grenze (c) Illustration / Lilija Tchourlina /gestaltsinn / netzzeit

Das Ensemble Platypus lädt „An die Grenze 1-3“ ein – das sind Grenzaufenthalte und -ereignisse mit Musik auf der Schmelz. Es geht um Grenzen im Kopf am Stammtisch, Grenzen des Körpers im Sportzentrum, Grenzen der Zeit im Altersheim. Das Leitungsteam Michael und Nora Scheidl von netzzeit (Buch/Regie und Bühnenbild/Ausstattung) vermeldet dazu Folgendes: In der Sporthalle im ASKÖ-Bewegungscenter werden drei Tänzer, animiert von Geige, Viola, Kontrabass, Gitarre und Objektakustikern, versuchen, die Körpergrenzen und die Fitness des Publikums auszuloten, im Schutzhaus zur Zukunft zelebrieren „Stammtischbrüder“ gemeinsam mit Flöten, Celli und zwei Klavieren instrumental, verbal, gestisch und mimisch ihre Grenzen im Kopf. Und im Haus Schmelz führen eine Sopranistin, eine Geigerin und ein Bassklarinettist im Speisesaal des Altersheimes zur Reflexion an jene Grenze heran, „die wir alle aufsuchen müssen, ob wir wollen oder nicht“. Vertreten ist auch Musik von Carola Bauckolt, Jorge Sánchez-Chiong, Tomasz Skweres, Tamara Friebel, Alexander Kaiser und vieles andere mehr.

Die Antilope, 11. und 14.–16. November

Die Antilope (c) Oper Köln Nicolai Priller

Noch eine abenteuerliche Reise in Form einer Notlandung ist in Johannes Maria Stauds Oper „Die Antilope“ ab 11. Oktober im MuseumsQuartier zu erleben. Bei einer Firmenparty stürzt sich ein Mann, der die Ansprache des Chefs ins Antilopische übersetzt hat, aus dem 13. Stock – so beginnt die Oper (Libretto von Durs Grünbein), die das Luzerner Theater uraufgeführt hat und die nun von der Neuen Oper Wien in der Inszenierung von Dominique Mentha gezeigt wird. In der Rolle des Victor erlebt der Bariton Wolfgang Resch eine Nacht grotesker Kommunikationslosigkeit, irrt in einer mit surrealen Elementen durchzogenen, traumartigen Folge seelischer Bilder durch die abendliche Stadt auf der Suche nach sich selbst und trifft überall auf Kälte und Einsamkeit: Ein Paar trennt sich im Streit, eine Frau wartet vergeblich auf ihr Blind Date, eine Mutter lässt ihr Kind stundenlang allein zurück. In diesem Kind und in den Tieren des Zoos findet er jene Einheit mit sich selbst, die er verloren hat. Dann kehrt er auf die Party zurück.

Vorschau

In einem Zwischenbericht zur „Halbzeit“ Mitte November werden wir über Eindrücke vom Festival berichten und auch eine Vorschau auf das noch Kommende bieten. Dazu zählt prominent Gérard Griseys Hauptwerk „Les Espaces acoustiques“ (16. November, Wiener Konzerthaus). Spektakuläre Raumelektronik verspricht Olga Neuwirths Schlüsselwerk „Le Encantadas“ (20. November, MuseumsQuartier, Halle E). Der 1981 in Brixen/Südtirol geborene und in Innsbruck lebende Hannes Kerschbaumer ist Preisträger des Erste Bank Kompositionspreises 2017, das Preisträgerkonzert findet am 22. November statt.

Heinz Rögl

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