Bigband-Jazz als Zeit-Zeichen

Das Vienna Art Orchestra schickt sich 2007 also an, ein Thirtysomething zu werden – und lässt zu diesem Behufe inne halten. Als Teil der neueren österreichischen Musikgeschichte spiegelte die Musik des VAO auch immer die gesellschaftspolitischen und musikästhetischen Entwicklungslinien wider. Ein Artikel von Andreas Felber.

Durch Themenvorschläge Mathias Rüeggs, die vordergründig auch ein gerüttelt Maß an amüsanter Pikanterie aufweisen: Die Geschichte des VAO unter der Perspektive übergeordneter zeitlicher Entwicklungen, politischer wie musikästhetischer Wandlungen zu inspizieren, das bedeutet nach einschlägigen Spuren in Musik und Struktur eines Klangkörpers zu suchen, dessen Gründer und Leiter exakt diese Bereiche strikt zu trennen pflegt: Hier die eigengesetzliche, für nichts als sich selbst stehende Musik, da die Außenwelt, die erstere Sphäre in ihrer Alltäglichkeit möglichst nicht zu behelligen hat. “Music is MUSIC, that’s it” bekannte Mathias Rüegg, Duke Ellington zitierend, im Rahmen des 2004 aufgenommenen Programms “Big Band Poesie”, dessen Titel-Zeilen sich zu einem recht anschaulichen ästhetischen Credo des VAO-Leaders vereinen.Vielleicht lässt sich antizipierend gleich einmal konstatieren, dass sich Rüegg damit – wenn auch bewusster reflektierend als der Gros der KollegInnen – durchaus im Trend einer Zeit befindet, in der über die Notwendigkeit oder Möglichkeit von (im weitesten Sinne) politischen Statements in musikalischen Formen oft nicht einmal nachgedacht wird. Das scheint auf die österreichische Musiklandschaft im Allgemeinen wie die sich erstaunlich unpolitisch gebärdende hiesige Jazzszene im Besonderen zuzutreffen. Während nach der Regierungswende 2000 unter bildenden Künstlern und Literaten Diskussionen brodelten, ob man aus den Händen Franz Moraks Preise entgegen nehmen, ob man ihn zu Vernissagen, Eröffnungen etc. einladen dürfe, hatte man unter ImprovisatorInnen offenbar kaum Probleme mit dem Kunststaatssekretär von schwarz-blauen Gnaden: Statements wie Peter Herberts – diskrete – “No F”-Piece anlässlich der Verleihung des Hans-Koller-Preises 2001 blieben seltene Ausnahmen.

Kulturpolitische Rahmenbedingungen einer jazzorchestralen Erfolgsgeschichte

Mathias Rüegg ist sich in dieser Hinsicht in 30 Jahren VAO treu geblieben. Geht man davon aus, dass Klänge allein als abstraktes, mehrdeutiges Kommunikationsmedium zur Formulierung konkreter Aussagen kaum geeignet sind, dafür stets verbaler Krücken bedürfen, sind Stücke, die in ihren Titeln, Texten oder Programmen auf aktuelle Zeiterscheinungen verweisen, tatsächlich extreme Raritäten. Intendierte politische Reflexion und das (oftmals unbewusste) Agieren im Rahmen gegebener Zeitumstände sind freilich zwei paar Schuhe, und der Blick auf die VAO-Vita zeigt hier doch manchen Zusammenhang mit (gesellschafts-)politischen wie (jazz-)musikgeschichtlichen Entwicklungslinien.

Es ist vor allem der Beginn, für den sich eine entsprechende – regionalgeschichtliche – Kontextualisierung aufdrängt. Das Wien der späten 70er-Jahre war geprägt vom Aufbruch einer jungen Alternativ-Szene, die sich zunehmend heftiger an den verknöcherten Strukturen der Stadt rieb. Nach Abriss des Erdberger Auslandsschlachthofs 1976 und damit des Geländes, das im Sommer zuvor den “Arenauten” für einen selbst verwaltenen Kulturbetrieb gedient hatte, erwachte in vielen – politisch auch von der Anti-Atomkraft-Bewegung beflügelten – jungen Menschen erst recht das Bedürfnis nach Ventilen und Foren für ihre kreativen Energien. Nicht zufällig entstand in jenen und den folgenden Jahren mit den Jazzfestivals in Wiesen, Saalfelden, Nickelsdorf u. a., mit der Extraplatte und Wiener Lokalen wie “Jazzspelunke”, “Miles Smiles” oder “Blue Tomato” ein Teil jener Infrastruktur, die bis heute die Jazzszene trägt und prägt.
Vor dem Hintergrund dieser Aufbruchsstimmung konnte es schon passieren, das an einem Abend nicht nur der ursprünglich angekündigte Pianist die Bühne betrat, sondern eine chaotische Orchester-Truppe eine Happening-artige Performance inszenierte. Selbiges geschah bekanntlich am 19. Mai 1977 in Jazz-Gittis Club am Bauernmarkt. So eindeutig das VAO der stimulierenden Unruhe dieser Zeit seine Geburt verdankte, so wichtig scheint heute ein anderer Faktor dafür, dass sich die anarchischen Abenteurer nicht alsbald wieder in alle Richtungen verliefen, sondern dauerhaft im internationalen Jazzgeschehen etablieren konnten: Neben der musikalischen Qualität der Beteiligten und der organisatorischen Zielgerichtetheit Mathias Rüeggs war dafür – so die Aussage des VAO-Impresarios selbst – die (in Österreich vermutlich erstmalige) Erschließung öffentlicher Fördermittel für den Jazz unabdingbare Voraussetzung. Erst diese – 1979 erhielt man einen ersten Reisekostenzuschuss vom Bund, 1981 stellte sich auch die Stadt Wien als Förderer ein – ermöglichten die langfristige Bindung internationaler Kräfte und heimischer Spitzentalente an das Orchester und damit dessen kontinuierliche Arbeit auf hohem Niveau. Noch zehn Jahr zuvor, als ein elitärer Hochkulturbegriff die Förder-Politik prägte, hätten alle musikalischen Qualitäten und alles Verhandlungsgeschick dafür nicht gereicht. Erst die Kanzlerschaft Bruno Kreiskys und die von Bildungs- und Kulturminister Fred Sinowatz propagierte “umfassende Kulturpolitik” bereiteten den Boden für die pluralistische Förderung von Klängen abseits des Kunstmusik-Kanons. Dass die Subventionierung des VAO (das 2005 81.000 ? vom Wiener Kulturamt, 55.000 ? von der BKA-Kunstsektion erhielt) bis in die Gegenwart fortbesteht und – zumindest öffentlich – bis dato nicht in Frage gestellt wurde, könnte man auch als Hinweis auf trotz des neoliberalen Zeitgeists und des wachsenden Drucks auf die Kulturbudgets – bei allen Mängeln – einigermaßen intakte Förder-Strukturen deuten.

 

Antizipation und Abschüttlung der Postmoderne

Es ist der Beginn, der sich auch ästhetisch, jazzgeschichtlich am einfachsten auf die begleitenden Zeitumstände beziehen lässt: Mit der Gründung des VAO sah sich in Österreich jene Jazz-Postmoderne antizipiert, die in den 80er-Jahren – Stichwort: New Yorker Downtown-Szene – ihren Durchbruch auf breiter Front erzielen sollte. “The avantgarde is dead – Death to tradition” wurde 1980 im “Concerto Piccolo” proklamiert: Die Philosophie des VAO sollte eine abseits aller Dogmen sein, eine Absage sowohl an die Orthodoxie der Bebop-Traditionalisten als auch die der in dieser Zeit als zunehmend klischeeanfällig empfundenen Free-Jazzer. Einer jungen Generation stand der Sinn nach scheuklappenlosem Auskosten und Transzendieren jener reichen Materialien, die die Geschichte akkumuliert hatte, nach unbekümmertem Stil-Zappen zwischen freier Improvisation und Ragtime, zwischen Anthony Braxton und Erik Satie, Volksmusik und Zwölftonreihe. Das VAO stand in den ersten Jahren für bunten Eklektizismus, der vielleicht auch deshalb bei manchen auf offene Ohren traf, weil er in seiner neodadaistischen Humoristik auch einen Kontrapunkt in Bezug auf den stark politisierten Zeitgeist bedeutete.

 

“Ich arrangiere gerne. Einer der Gründe liegt darin, dass man sich beim Komponieren heute immer fragen muss: Kann ich so ein Thema heute noch schreiben? Kann ich diese Phrase noch verwenden?”, formulierte Mathias Rüegg 1995 in seinen “Zehn Bagatellen über den Jazz”, abgedruckt im “Wespennest” Nr. 99. Es ist ein oft beobachteter Prozess, dass musikalischen Geistern, die in diversen Stil-Gehegen wildern, früher oder später der Sinn nach einer Refokussierung ihrer Ausdrucksmittel steht – zumal sich in den 80ern die Strategie des Stil-Hoppings nicht selten rasch abnützte. Die Krise, in die so manches Postmoderne-Ensemble gegen Ende des Jahrzehnts schlitterte, bot verschiedenste Auswege: Während einige unverdrossen, freilich oft mit schwindender Reichweite weitermachten (Willem Breuker Kollektief), andere ihre Ensembles auflösten (John Zorns “Naked City”), um sich etwa Elektronik oder ethnischen Klängen zu öffnen, führte für das VAO der Weg in die Zukunft zurück auf den vermeintlich sicheren Boden der (Jazz-)Tradition: In den sich ab 1993 häufenden Bearbeitungen und Tributes (dreimal Ellington, Mingus, Dolphy, Gershwin; nebst Wagner, Verdi, Schubert, Strauß), der respektvollen Beschäftigung mit der Vergangenheit mutierte das VAO vom distanzierten Beobachter und spielerischen Jongleur zum zwar immer noch mehrere Schritte abseits des Mainstream agierenden, aber problemlos einzugemeindenden Mitverwalter jener Tradition. Ob diese konservative Volte, die sich auch in der Vergrößerung des Bläsersatzes auf die klassischen 5-4-4-“Sections” traditioneller Bigbands seit 1998 ausdrückt, in den Kontext neoliberaler weltpolitischer Tendenzen gestellt werden kann, wie man es – wenig überzeugend – im Hinblick auf den Neokonservativismus Wynton Marsalis’ und die “Reaganomics” der 80er-Jahre versucht hat? Das Faktum einer trotz in disparater Vielfalt erblühenden Jazzszene spricht eher für die Erklärung einer persönlichen Umorientierung Mathias Rüeggs.

 

9/11 und die Resensibilisierung einer politikmüden Musikszene

 

Auch darüber hinaus bleibt die Suche nach einschlägigen Spuren in der Musik des VAO eine schwierige. Dass in den Jahren 1993 bis 2000 gleich drei Programme Bezugnahmen auf eine europäische Programmatik aufwiesen (“European Songbook”, “European Echoes”, “Artistry in Rhythm – A European Suite”), kann mehrdeutig gelesen werden: als Reflexion des europäischen Einigungsprozesses wie auch einer immer selbstbewusster auf eigene Traditionen verweisenden europäischen Jazzszene – oder aber (in Bezug auf “Artistry in Rhythm”) schlicht auf die paneuropäische Besetzung des VAO und die internationale Tourtätigkeit. Zweitere Lesart konterkariert Mathias Rüegg selbst, wenn er gegenüber dem “Downbeat”, abgedruckt im Februar 2006, zu Protokoll gibt: “I’ve tried to get more and more out of the European sound. (.) At the end, as to the question of being Viennese in jazz or European in jazz, I would like to be accepted as a universal jazz musician, not as a European one.”
Immerhin wird man – man höre und staune – in allerjüngster Gegenwart fündig. Die Folgen der Anschläge von 9/11, insbesondere die Kriege von George W. Bush, sie haben für Pop- wie auch – wesentlich moderater – JazzmusikerInnen neue Reibeflächen geschaffen und zu einer politischen Resensibilisierung geführt: Die Statements von Green Day, Burt Bacharach, Neil Young, Peaches u. v. a., sie finden ihre jazzigen Pendants in Dave Douglas, Charlie Haden, Carla Bley oder Bobby Previte. Und, in Spuren, auch im VAO: Anna Lauvergnacs Text zur Rüegg-Komposition “Insecurity Is The Secret of Eternal Youth”, Teil des 2004er-Programms “Big Band Poesie”, lässt nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig:

 

“Sometimes I fear we’re getting closer
to a point of no return
when mass murder is the rule
and attack now is called ‘defense’
it is hard to find out what makes sense.”

 

Ein Blick auf die VAO-Homepage zeigt, dass Mathias Rüegg das Thema der Entfremdung der Kulturen im Zuge der für 2007 konzipierten Jubiläumstrilogie “3” sogar in den Mittelpunkt rückt. Während heute häufig – und völlig zu Recht – die verbindenden Elemente zwischen westlicher und islamischer Kultur betont werden, verweist Rüegg auf einen Punkt, der in Zeiten unreflektierter Anti-Amerikanismen weitgehend vernachlässigt wird. In der Gegenüberstellung von sich wechselseitig befruchtenden “American Dreams” und “European Visionaries” will er einen “versöhnlichen Akzent für die Verständigung dieser beiden so verschiedenen und letztlich doch so ähnlichen Kulturen setzen”, die ideell zurzeit in manchen Belangen gefährlich weit auseinander driften. Ein kluger Gedanke, der neugierig auf die klangliche Umsetzung macht. Rüegg wäre freilich nicht Rüegg, würde er dem Kommentar zu seinem bislang quantitativ – und vielleicht auch inhaltlich – ambitioniertesten Werk nicht folgendes “Postskriptum” anfügen: “‘Atheisten’ können das Ganze auch nur als ein raffiniertes musikalisches Spiel auf mehreren Ebenen ansehen.”

 

Andreas Felber

 

Bilder VAO: www.vao.at