„BEOBACHTEN MIT DEM OHR“ – ANGELICA CASTELLO (ZIMT) IM MICA-INTERVIEW

Das Impro-Quintett um ANGÉLICA CASTELLÓ, KAI FAGASCHINSKI, BARBARA ROMEN, GUNTER SCHNEIDER und BURKHARD STANGL hat das neue Album „Ganz“ auf dem Label BESO DE ANGEL veröffentlicht – aufgenommen zwischen zwei Lockdowns und live bei den KLANGSPUREN SCHWAZ im September 2020. Innerhalb einer Dreiviertelstunde lässt es sich bei „Ganz“ gut dösen und dämmern, während „die Ohren beobachten“. Wie das funktioniert, hat ANGÉLICA CASTELLO verraten. Und mit Christoph Benkeser und Michael Franz Woels über Grundvertrauen im Spiel, ihre „Ikea-Tröte“ und die Konzentrationsfähigkeit im Alltag gesprochen.

„Ganz“ ist das neue Album von Zimt – ein dreiviertelstündiger, homogener Fluss aus dezenten Klang-Interventionen. Ich bin beim Hören wunderbar in einen liminalen Zustand abgedriftet und dann eingeschlafen. Das war eine Deep-Listening-Erfahrung für mich …

Angélica Castelló: Das gehört genau so! Vielleicht kennst du diese Zen-Sage, ich glaube sie geht so: Ein Meister unterrichtet seinen Schüler in Musik. Er sagt zu ihm: Übe ein Jahr und die Leute werden beim Zuhören lachen. Übe zehn weitere Jahre und sie werden weinen. Übe aber so lange, bis deine Zuhörer einschlafen. Dann bist du ein großer Meister.

Wie kann man in eine Stimmung gebracht werden, in der das möglich ist?

Angélica Castelló: Man muss sich die Zeit dafür nehmen. Wir Menschen hören zu wenig zu, geben der langen Dauer selten ihre Zeit und verlieren unsere Aufmerksamkeit durch das ständige Skippen in Computern. Deshalb leitet das Stück an, da und im Moment zu sein. Driftet man dabei ab, ist das optimal. Die Musik fließt. Es ist eine lange Reise – auch wenn ich das Wort in diesem Kontext gar nicht so gerne habe. Ursprünglich wollte ich auf meinem Label „Beso de Angel“ nur Kassetten veröffentlichen. Aber diese Aufnahme funktioniert besser auf CD.

Warum wurde die Aufnahme in fünf einzelne Titel unterteilt, wenn sich das Album doch „Ganz“ nennt?

Angélica Castelló: Über die Aufteilung in einzelne Stücke bin ich deshalb auch gar nicht glücklich, weil sie einer pragmatischen Entscheidung geschuldet ist. Wir dachten an das Publikum. Die Idee war, innerhalb der 45 Minuten zwischen den Titeln springen zu können. Radikaler wäre es gewesen, das Stück als Einheit zu belassen, wie auch online auf Bandcamp. Schließlich ist es wie ein Bild. Dieses Projekt folgt keiner Linearität, sondern soll das Gefühl suggerieren, in der Mitte von etwas zu stehen und sich umzuschauen. Ich denke an eine Wiese bei Nacht. Über dir siehst du die Sterne, du beobachtest nur. Bei „Ganz“ geht es um diese Haltung: die Beobachtung mit dem Ohr.

Bei einem Bild lässt sich kein Teil herauslösen, ohne die Gesamtheit zu verletzen.

Angélica Castelló: Ich habe auf Mixcloud zuletzt ein paar Radioshows gehört. Verpasst du ein Stück, kannst du – zumindest als freie Nutzerin – nicht einfach zurückspringen und nachsehen, wie der Titel hieß. Das führt dazu, dass man dabei sein muss; dass man es nicht einfach nebenbei laufen lässt. Wir sind das kaum noch gewohnt. Schließlich ist alles jederzeit verfügbar – wir streamen und machen gleichzeitig etwas anderes, weil wir wissen, dass wir es später nochmal sehen oder hören können. Für mich ist das der falsche Ansatz. Am liebsten würde ich eine Kassette oder eine CD machen, die sich nach einmaligem Hören selbst zerstört.

Verlernen wir als Gesellschaft das Üben von Geduld und das Schätzen der Einmaligkeit von Ereignissen?

Angélica Castelló: Mir fällt das selbst auf. Meine Konzentrationsspanne wird immer kürzer – fast wie bei einem Kind. Das hat mit den äußeren Einflüssen, mit Social Media etc. zu tun, klar. Ich finde es aber spannend, das zu beobachten. Die Frage ist: Wohin führt die Beschleunigung? Zur absoluten Leere? Zu einem Punkt Null? Finden wir dort die wahre Erkenntnis?

Zimt: „Ganz“

„DAS IST DIE MAGIE DER MOMENTHAFTIGKEIT EINER LIVE-AUFNAHME.“

Oder das Nichts. Auf „Ganz“ passiert allerdings doch viel. Klänge kreiseln, die ein- und ausfließen – und irgendwann enden, man kann sich darin angenehm verlieren. Das ist eine schöne Erkenntnis.

Angélica Castelló: Es geht dabei um eine Art Zeitlosigkeit, in der man sich verlieren kann. Das hängt stark mit der Gruppe zusammen. Barbara Romen, Gunter Schneider, Kai Fagaschinski und Burkhard Stangl folgen stärker noch als ich dem Idiom des Jetzt. Sie bewegen sich musikalisch in einer kontemplativen Welt. Dagegen bin ich viel nervöser. Vielleicht bedingt das mein Ansatz der Elektronik. Dieser Ansatz schafft es, die Kontemplation zu durchbrechen, sie in manchen Momenten sogar bewusst zu stören. Und doch entsteht auf „Ganz“ wieder eine Welt in Balance. Das ist die Magie der Momenthaftigkeit einer Live-Aufnahme.

Eine, die die äußeren Umstände im Spiel widerspiegelt?

Angélica Castelló: Genau, die Improvisation dokumentiert den Moment. Es mag esoterisch klingen, aber: In der Improvisation kommen die wahren Impulse der Seele durch. Das Unbewusste, vielleicht auch eine Besorgnis oder eine Melancholie – Gefühle, die etwas befinden. Dabei ist unsere Musik weniger von Emotionen getragen, es ist eher ein „Diskutieren“. Dieses Spiel mit Atmosphären bildet unsere Befindlichkeiten über Themen zur Außenwelt ab. Sie schwingen im Klang mit.

Du spielst im Ensemble Zimt nicht nur Flöte, sondern auch Kassetten ein.

Angélica Castelló: Bei Zimt versuche ich, häufiger instrumental, also Flöte zu spielen. Mit der Paetzold-Blockflöte kann ich sehr unmittelbar antworten. Auf „Ganz“ kommt aber viel Elektronik vor – die Kassetten-Sounds ziehen sich durch das Live-Set wie ein roter Faden. Ich arbeite gerne mit dem Medium Tape, dabei mit Sinustönen oder Naturgeräuschen aus Field-Recordings, verwende aber auch alte Hörspiele oder Aufnahmen aus wissenschaftlichen Interviews.

Das Gitarrenspiel von Burkhard Stangl hat mich oft an Morsecode-artige Signale erinnert?

Angélica Castelló: Ich glaube, er schickt die Signale an unseren zweiten Gitarristen. Sie sind sehr verschieden, aber finden trotzdem immer zueinander. Das hängt auch damit zusammen, dass sie seit über vierzig Jahren befreundet sind – sie kennen sich wahnsinnig gut, sind das Herz dieses Projekts.

„… WEIL ICH AUS DER ELEKTROAKUSTIK-RICHTUNG KOMMEND EHER ANEKDOTISCH DENKE.“

Man hört dieses Grundvertrauen im Spiel.

Angélica Castelló: Abgesehen davon sind sie in puncto Improvisation große Meister. Sagt der eine A, weiß der andere genau, wie B zu klingen hat. Ich steige mit einem anderen Hintergrund ein, weil ich aus der Elektroakustik-Richtung kommend eher anekdotisch denke. Nicht umsonst bezeichne ich mich als Romantikerin des Ensembles.

Gerade dieser Kontrast macht Zimt aus.

Angélica Castelló: Und die Tatsache, dass wir uns nicht zu ernst nehmen. Kai Fagaschinski überlässt nichts dem Zufall, ist aber auch ein sehr lustiger Mensch. Er ist ein großer Fan von Heavy Metal. Er hat auch ein Duo mit dem Pianisten Chris Abraham, sie nennen sich The Dogmatics. Die Plattencovers haben diese Totenkopf-Heavy-Metal-Ästhetik.

Stichwort Konzeptkunst und Ästhetik. John Cage wird ja sehr oft von Impro-Ensembles erwähnt oder zitiert. Weshalb zitiert ihr Marcel Duchamp?

Angélica Castelló: Das Konzept-Stück „Erratum Musical“ von Marcel Duchamp stand ganz am Anfang von Zimt. Bevor wir zu improvisieren begonnen haben, spielten wir diese Idee von Marcel Duchamp bei einer Fluxus-Ausstellung im Museumsquartier Wien. Im Vergleich zum heutigen Projekt Zimt aber war es ein enges Korsett. Schließlich schnürt ein Konzept auch ein. Trotzdem ist diese Welt der Readymades für mich das Beste, was dem 20. Jahrhundert künstlerisch passieren konnte. Es hatte eine Leichtigkeit, es war eine Befreiung und hat meiner Meinung nach erlaubt, dass nicht-akademische Künstlerinnen und Künstler einen Platz in der Kunstwelt finden konnten.

Um diesen Platz in der Folge erneut zu akademisieren.

Angélica Castelló: Ja, es entstand wieder eine Einheit, die stark akademisiert war und nach wie vor ist. Man muss sich nur den Kanon der Komponistinnen und Komponisten ansehen, die heute an Musikakademien gelehrt werden. Kai Fagaschinski sagte auch einmal mit einem Augenzwinkern in einem gemeinsamen Gespräch, „dass man Musik nicht an einer Universität studieren sollte.“

Eine Freiheit, der gewisse Privilegien vorausgingen.

Angélica Castelló: Das stimmt, bessere familiäre und ökonomische Verhältnisse helfen natürlich dabei, die eigene Kreativität freier entfalten zu können. Wenn du von deiner Persönlichkeit her wahnsinnig besessen bist von deinem Kunstschaffen, brauchst du das aber nicht. Es gibt immer wieder Künstlerinnen und Künstler, die quasi aus dem Nirgendwo und aus schwierigsten Verhältnissen kommen. Mir fällt da spontan der franko-kanadische Komponist Claude Vivier ein.

Und der musikgeschichtliche Kanon an Musikuniversitäten war natürlich lange Zeit ganz stark männlich geprägt. Aber natürlich gibt es auch weibliche Vorbilder in der Neuen Musik.

Angélica Castelló: Ich unterrichte im Fach Repertoire Elektroakustik ein Semester lang nur weibliche Vorbilder. Und da wurde ich auch schon von Kollegen gefragt: „Schaffst du das?“ – Im Sinne von: „Gibt es genug Beispiele?“ Natürlich schaffe ich das leicht. Und ich bitte dann auch die jungen Studierenden, mir Beispiele aus der Clubbing-Szene zu präsentieren. Denn das ist für mich auch elektroakustische Musik. Und da bin ich wirklich erstaunt, was sich in dieser Generation tut, wenn man das Schaffen generell divers – auch von den Genderzuschreibungen her – betrachtet.

Sprechen wir noch über dein Instrument, die skulptural wirkende, viereckige Paetzold-Blockflöte, die ja auch ein bisschen wie ein Readymade von Marcel Duchamp aussieht:

Angélica Castelló: Ja, im Design irgendwo zwischen Ikea und Bauhaus. Eine lustige Anekdote zur Paetzold-Flöte: Ich wollte einem Komponisten, der dieses Instrument kennenlernen wollte und dafür komponieren wollte, das Instrument vorführen. Ich habe eine große, zwei Meter hohe Blockflöte aufgebaut und er hat stumm geschaut und nicht reagiert und gewartet. Als ich dann zum Spielen angefangen habe, hat er lachen müssen, da er dachte, dass dieser Holzkasten nur das Etui der Flöte sei.

Es gibt aber auch große Blockflöten, die rund sind. Pia Palme zum Beispiel spielt nur runde Bassblockflöten. Diese Küng-Flöten haben einen anderen, edleren Klang – mehr nach echten Blockflöten. Die Paetzold-Flöte kann wie ein Didgeridoo oder wie eine Holzkiste klingen und ich mag dieses Geräuschhafte der Klappen. Der italienische Komponist Augustino Di Scipio hat sie als eine „Geräuschmaschine“ bezeichnet. Es gibt auch Stücke, die speziell für die Paetzold-Flöte komponiert sind, die kannst du nur auf dieser Flöte spielen. Für viele ein Highlight ist das Stück „Seascape“ von Fausto Romitelli. Es wurde für den Flötisten Antonio Politano komponiert. Er hat die zeitgenössische Sprache der Paetzold-Flöte sehr weiterentwickelt. Ich habe dieses Stück in meiner Studienzeit und auch danach oft gespielt und es hat die Palette meines Improvisationsspiels stark geprägt. Antonio Politano hat die technischen Möglichkeiten der Artikulationen, das Spiel mit den Klappen, das Singen mit der Flöte gut ausgelotet.

Angelica Castello (c) Rania Moslam
Angélica Castelló (c) Rania Moslam

„… AUCH GANZ ABSTRAKTE MUSIK HAT IMMER EIN NARRATIV.“

Das Spielen mit Tapes und das Improvisieren auf der Pätzold-Flöte, sind das nicht zwei sehr unterschiedliche musikalische Herangehensweisen?

Angélica Castelló: Es sind schon zwei verschiedene Welten, die ich zu einer verbinde. Die Flöte nehme ich meist mit zwei Mikrophonen ab, manchmal mit ein paar Effekten. Poetisch betrachtet passen die beiden musikalischen Elemente gut zusammen, denn die Flöte heißt auf Englisch Recorder. Das kommt aus dem Altenglischen, eigentlich aus dem Italienischen. „Ricordare“ heißt: sich erinnern. Ein Tape-Recorder als Aufnahmegerät ist ja ein Erinnerungsapparat. Blockflöten in England waren Instrumente, die an Vogelstimmen erinnert haben. Beides hat mit Gedächtnis zu tun. Ich betrachte mein Instrumentarium metaphorisch und philosophisch als eine Einheit.

Heute habe ich etwas Schönes über das Thema narrativer Strukturen gelesen. Aufgenommene Musik, auch ganz abstrakte Musik, hat immer ein Narrativ, einfach durch den Lapsus, dass sie schon gewesen ist. Und auch in dem Moment, in dem du einen Klang hörst, ist dieser Klang schon wieder passé.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Christoph Benkeser, Michael Franz Woels

Link:
Beso de Angel (Bandcamp)
Zimt
Angélica Castelló
Angélica Castelló (music austria Datenbank)
Romen-Schneider
Gunter Schneider (music austria Datenbank)
Barbara Schneider-Romen (music austria Datenbank)
Burkhard Stangl
Burkhard Stangl (music austria Datenbank)