Schon 1962 schreckte KURT SCHWERTSIK mit neuen tonalen Konstruktionen die Darmstädter Avantgarde auf, stieß aber damit letztlich dort ebenso auf Wohlwollen wie seither bei einer großen Zahl an Musikfreunden in aller Welt. Zum 80. Geburtstag ist ihm am 15. Juni 2015 ein Porträt im WIENER KONZERTHAUS gewidmet.
Von Stockhausen mit Zucker geadelt
Die Episode mag ein Schlüsselmoment in der Biografie Kurt Schwertsiks darstellen: Kein Geringerer als Karlheinz Stockhausen warf ihm 1962 nach einer Teilaufführung seiner „Liebesträume, op. 7“ bei den Darmstädter Ferienkursen ein Zuckerpäckchen auf die Bühne, beschriftet mit der Aufforderung wiederzukommen. Sie zeigt, wie es dem Jungkomponisten als einem der wenigen aus seiner erarbeiteten Position innerhalb der damaligen Avantgarde heraus gelang, einen neuen Weg einzuschlagen, mit dem er sowohl ein breiteres Publikum ansprechen konnte als auch (vielleicht gelegentlich gönnerhaft-augenzwinkernde) Akzeptanz bei progressiver eingestellten Kolleginnen und Kollegen zu finden. In seiner „neuen“ tonalen Musiksprache schloss Schwertsik freilich nur sehr bedingt an klassisch-romantische Muster an. Vielmehr blieb er stets in einer Sonderstellung, die ihm bald die Position eines allseits höchst beliebten und geschätzten Einzelgängers verlieh.
Vom Schneidersohn zum Universitätsprofessor
Alles andere als unwichtig waren für diese Entwicklung der historische und geografische Rahmen: Als Jugendlichen prägten ihn die Nachkriegs- und (auch musikalische) Wiederaufbauzeit ebenso wie der Geist seiner Heimatstadt Wien mit all ihren Charakteristika und Eigenheiten, die sich in der Mentalität ihrer Bewohner und den hier entstehenden Arbeiten ihrer Künstler spiegeln. Als Sohn eines Schneiderehepaars wurde Kurt Schwertsik am 25. Juni 1935 in Wien geboren. Zu seinen Lehrern an der Akademie für Musik und darstellende Kunst (der nunmehrigen Musikuniversität) zählten Joseph Marx, Karl Schiske und Gottfried Freiberg. Die Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen bei Stockhausen, Mauricio Kagel, John Cage, Luigi Nono und René Leibowitz erweiterten seinen Horizont ebenso wie teils längere Aufenthalte in Köln, Rom, London und Kalifornien. Zunächst ab 1955 hauptberuflich Hornist beim Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester und 1968 bis 1989 bei den Wiener Symphonikern wurde er 1979 Kompositionslehrer am Konservatorium der Stadt Wien, 1988 Gastprofessor und schließlich 1989 ordentlicher Professor für Komposition an der Wiener Musikhochschule – eine Position, die er bis zu seiner Emeritierung 2003 innehatte.
Musikalisch hier wie dort präsent
Den musikalischen Aufbruch der Zweiten Republik auch über das Komponieren hinaus aktiv mitgestaltend, gründete Schwertsik 1958 gemeinsam mit Friedrich Cerha das nach wie vor bestehende Spezialensemble für Neue Musik die reihe. Ab 1965 veranstaltete er mit Otto M. Zykan sogenannte Salonkonzerte in Wien, 1968 erfolgte mit Zykan und Heinz Karl Gruber die Gründung des Ensembles MOB art & tone ART. MOB art beschrieb dabei mit einem Augenzwinkern den bewussten Verzicht auf elitären „guten“ Geschmack und die Hinwendung zu Elementen der Popularmusik, tone ART unterstrich die Hinwendung zur Tonalität. Mit seinen Werken auch international reüssierend, erfuhr er ausführliche Präsentationen u. a. bei den Berliner Festwochen 1979, beim Londoner Almeida-Festival 1987, beim Musica-Nova-Festival in Brisbane 1990 und beim Festival Alternative Vienna in London 1993. Kurz zuvor war 1992 mit Schwertsik erstmals ein Komponist neuer tonaler Musik einer der Hauptkomponisten des Festivals Wien Modern.
Das Neue im Bestehenden entdecken
Ist Schwertsiks Schaffen in seinen Anfängen durchaus an der Avantgardemusik der 1950er- und der frühen 1960er-Jahre orientiert, so fand er bald zu seinem eigenen Weg in einer neuen tonalen Sprache, ohne dabei ins Fahrwasser der damaligen ultrakonservativen Kräfte zu gelangen. Bilden die erwähnten „Liebesträume, op. 7“ ein Schlüsselwerk dieser Phase, so lässt sich für die MOB-Zeit etwa die “Symphonie im MOB-Stil” op. 19 (1973) nennen, in der er unter dem Einfluss der Musik der Beatles Elemente der Popmusik verarbeitete. Immer wieder wichtig für Schwertsik: musikalische Fantasiewelten, in denen er sich auch außereuropäischen und ausgestorbenen Kulturen annähert, so etwa in „Musik vom Mutterland Mu op. 22“ und „Twilight Music, op. 30“, die auf dem Vorbild schottischer, irischer und bretonischer Lieder und Tänze beruht. Zum Hauptwerk seines orchestralen Œuvres wird der aus fünf Einzelwerken bestehende Zyklus der „Irdischen Klänge“ (1980–92), der eine Art ökologisches Bekenntnis bildet, aber auch eine Auseinandersetzung mit den allgemeinen Fragen des Lebens auf dieser Erde darstellt.
Prädikat: repertoiretauglich
Was herausgreifen aus den weiteren Werken des Katalogs? Zu vieles davon hat erfreulicherweise den Weg ins Repertoire von Orchestern und Instrumentalisten gefunden, als dass hier auch nur annähernd detailliert darauf eingegangen werden könnte. Stellvertretend seien genannt: die von Roger Norrington am Abend der Jahrtausendwende am Salzburger Mozarteum uraufgeführte „Schrumpf-Symphonie, op. 80“, das für Christian Altenburger komponierte zweite „Violinkonzert, op. 81“, das nicht nur vom Alban Berg Quartett viel gespielte „Adieu Satie für Streichquartett und Bandoneon, op. 86“ oder das Trompetenkonzert „Divertimento Macchiato, op. 99“, das seit seiner Uraufführung in vielen Konzerten des Trompeters Håkan Hardenberger zu hören war und wie eine große Anzahl anderer Werke Schwertsiks auch auf CD erschienen ist. Das leidenschaftliche Spiel mit den Farben eines großen Klangkörpers setzte sich in jüngerer Zeit etwa mit „Nachtmusiken, op. 104“ und „Musik: Leicht Flüchtig, op. 110“ fort, die ihrerseits bereits über die jeweilige Premiere hinaus aufgeführt wurden.
Vokal familiär unterstützt
Schwertsiks nicht minder reicher Musiktheaterkatalog ist im Gegensatz dazu mit dem Wermutstropfen behaftet, dass zwar alle darin enthaltenen Titel das Licht der Bühnenwelt erblickten, die meisten davon jedoch nicht von anderen Häusern inszeniert wurden. Eine Neubewertung würden nicht nur etwa die Opern „Der lange Weg zur großen Mauer, op. 24“ (Libretto: Richard Bletschacher) und „Die Welt der Mongolen, op. 72“ (Michael Köhlmeier) verdienen. Mehrfach inszeniert wurden hingegen bereits seine Kinderopern „Fanferlieschen Schönefüßchen, op. 42“ (Karin und Thomas Körner) und „Eisberg nach Sizilien, op. 106“ (Schwertsik). Nicht übersehen sei natürlich, dass Schwertsik oft auch ganz unmittelbar seiner Herkunft in Form von Wiener Dialektliedern Rechnung trägt, so u. a. in den Zyklen „Da Uhu schaud me so draurech aus, op. 20“ (H. C. Artmann, 1969) und „Iba di gaunz oaman Fraun, op. 49“ (Christine Nöstlinger, 1983). Kongeniale Interpretin dabei ist immer wieder seine Frau Christa Schwertsik, die er wenn möglich auch gerne selbst am Klavier begleitet.
„Nach so viel Erinnerung sollten wir zum Schluss in die Zukunft blicken, am besten jeder in seine eigene! Dazu ein Hinweis: Ich warne jedermann, die eigenen Grenzen zu erkennen.“ (Kurt Schwertsik, 1983)
Christian Heindl
Boosey & Hawkes