„An der Grenze des Sagbaren“ – Reinhold Schinwald im mica-Interview

Absolute Tabus und gesellschaftskritische Themen greift REINHOLD SCHINWALD in seinen musiktheatralischen Werken auf. Was den Komponisten und Toningenieur dazu veranlasst und wie er seine Verantwortung als Komponist definiert, verriet er im Gespräch mit Doris Weberberger.

Für Ihre musiktheatralischen Werke ziehen Sie unter anderem Texte von Sophie Reyer und Elfriede Jelinek heran. Welche Rolle spielt der Text bei der Entstehung der Musik?

Reinhold Schinwald: Ich habe einige Arbeiten realisiert, bei denen ein vorab aufgenommener Text den Ausgangspunkt bildete. Mein Interesse richtet sich dabei auf die musikalischen und klanglichen Anteile des Sprechens, die ich instrumental überforme. Die klangliche Analyse hilft mir dabei, einen Zugang zum Komponieren zu finden, und beeinflusst schließlich auch die Entwicklung der kompositorischen Struktur.

Eine Zeitfrequenzanalyse?

Reinhold Schinwald: Ja, oder auch eine aurale Analyse. Bei „nICHt“ für Stimme und Flöte etwa habe ich eine Transkription des Sprechrhythmus eines vorab aufgenommenen Textes auf diese Weise angefertigt. Bei meiner Kurzoper „fremd körper“, für die ich elf Instrumente zur Verfügung hatte, verwendete ich jedoch eine eigens dafür programmierte Software, die über mehrere Arbeitsschritte den vorab aufgenommenen Text in eine Partitur übersetzt hat. Diese Partitur musste ich dann noch einmal „lesen“ und wiederum interpretieren. Dieses Rückinterpretieren war ein relativ aufwendiges Verfahren, das mir half, klanglich interessante Ergebnisse zu gewinnen.

Das klingt, als hätte Sie manches daran überrascht.

Reinhold Schinwald: Rückblickend war das Überraschende, dass ich diejenigen Stellen am interessantesten gefunden habe, bei denen ich am weitesten von der technischen Analyse abgewichen bin. Anscheinend war es aber trotzdem ein notwendiger Schritt, um zu diesen Ergebnissen zu kommen.

„[…] ein Mittel, um erst einmal Distanz zu gewinnen […]“

Was hat Sie zum Schritt der Analyse bewogen?

Reinhold Schinwald: Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist der zugrunde liegende Text von „fremd körper“ semantisch stark aufgeladen. Daher war es ein Mittel, um erst einmal Distanz zu gewinnen, weil ich vermeiden wollte, emotionale Textinhalte zu verdoppeln.

Sie sind auch Toningenieur – hat das Wissen darum auch eine Rolle gespielt?

Reinhold Schinwald: Zumindest das Wissen darum, dass man so etwas technisch machen kann. Das Interesse kommt aber vor allem aus meiner Hinneigung zur Literatur, vor allem zu jener mit sprachphilosophischem und sprachkritischem Charakter – wie etwa zu Werken von Samuel Beckett, die sich oft an der Grenze des Sagbaren bewegen und dabei das Verhältnis von Subjekt, Sprache und Wahrnehmung untersuchen. Wobei ich hier Sprache als sinn- und identitätsstiftendes Mittel zur Aneignung von Welt verstehe. Auch in der Textvorlage von Sophie Reyer wird dieser Gedankenkomplex zum Aspekt ihres Schreibens: Die „Kindsmörderinnen“ hatten selten die Fähigkeit und die Gelegenheit, als sprachmächtige Subjekte ihr Handeln zu reflektieren und zu rechtfertigen, und waren so weitestgehend den für ihre Fälle zuständigen Institutionen und der öffentlichen Meinung ausgeliefert. Sie „wurden gesprochen“ und waren somit sprachlos. Eine Ebene meiner musikdramatischen Konzeption war es, die Konsequenzen dieser Sprachlosigkeit auf die körperlichen Aspekte des Sprechens zu übertragen: Das heißt, das Verhältnis zwischen Sprache, Stimme und Körper entsprechend den Textinhalten zu bestimmen. Eine Intention der Klanganalyse war es, musikalische Strukturen zu gewinnen, die eine Textkohärenz aufweisen und es mir ermöglichen, die klanglichen Anteile des gesprochenen Textes kompositorisch zu bearbeiten. Das Ensemble überformt den durchgängigen Text und fügt ihm eine Klanghaut oder Klanghülle hinzu, die mehr oder weniger fest sitzt und die Semantik in unterschiedlichen Graden absorbiert oder unterstützt.

„Kunst, die nur für sich selbst steht, ist mir zu wenig.“

Der Mord an einem Neugeborenen durch die Mutter ist ein absolutes Tabuthema, das in der Kurzoper „fremd körper“ angesprochen wird, beim Musiktheater „RING Modulationen“ greifen Sie gesellschaftskritische Themen auf. Welche Rolle sehen Sie für sich als Komponisten in der Gesellschaft?

Reinhold Schinwald: Kunst, die nur für sich selbst steht, ist mir zu wenig. Als Teil einer sozialen Welt und Umwelt muss man eine Haltung demgegenüber einnehmen, was sich als Welt darstellt. Aus dieser Haltung heraus bestimmt sich auch das Handeln. Daraus ergibt sich eine Verantwortung, die jeder Mensch wahrnehmen muss – oder zumindest sollte. Das tut natürlich nicht jede und jeder mit der gleichen Intensität, aber ich denke schon, dass Künstlerinnen und Künstler eine speziellere Verantwortung haben.

Inwiefern betrifft Sie das auch persönlich? Ich habe den Eindruck, dass sozialpolitische Aussagen in Ihren Werken sehr wichtig sind.

Reinhold Schinwald: Eine kritische Grundhaltung gegenüber dem politischen Geschehen setze ich bei Kunstschaffenden ohnehin voraus. Es geht mir jedoch nicht darum, Aussagen zu treffen. In diesen Arbeiten versuche ich, einen möglichst vielschichtigen und differenzierten Blick auf gesellschaftliche Phänomene und Prozesse zu werfen, der es ermöglichen soll, die Wahrnehmung darauf zu verändern oder zumindest zu erweitern. Ich bin davon überzeugt, dass Kunst dafür ein geeignetes Werkzeug sein kann.

Dennoch gibt es auch viele Komponistinnen und Komponisten, die sich zwar persönlich politisch äußern, deren Musik aber nicht politisch ist.

Reinhold Schinwald: Ich finde es nicht relevant, wenn eine Künstlerin bzw. ein Künstler sagt, dieses oder jenes politische Ereignis sei der Ausgangspunkt für eine Arbeit, und sich überhaupt nichts davon abbildet. Das mag vielleicht rezeptionsästhetisch ein gewisses Interesse bergen, aber politische Kunst ist es jedoch nicht. Die Instrumentalisierung der Kunst für politische Zwecke halte ich jedoch für bedenklich. Insofern ist es immer auch ein Balanceakt, den man auszuführen hat. Im konkreten Fall von „fremd körper“ stellt sich für mich dieses Problem ja auch, da es grundsätzlich anmaßend und bevormundend ist, jemandem eine Stimme leihen oder für jemand Partei zu ergreifen. Andererseits wären die Fälle und Geschichten dieser Frauen heute vergessen, gäbe es nicht ein Interesse seitens Historikerinnen und Historikerinnen sowie der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. In diesem Sinne verstehe ich diese Arbeit auch als Erinnerungsarbeit. Mein Ansatz, mit einem Phänomen wie Kindsmord künstlerisch umzugehen, ist, die Thematik aus möglichst vielen Perspektiven darzustellen und eindeutige Parteinahmen zu vermeiden. Die Frage, wie man konkret reagieren kann und muss, stellt sich am Ende dabei immer wieder neu.

„Meines Erachtens braucht die künstlerische Auseinandersetzung auch immer eine Distanz […]“

Auf der einen Seite setzen Sie sich für diejenigen ein, die keine Stimme haben, auf der anderen Seite aber ist es auch eine Anmaßung. Wie finden Sie da zu Ihrer Position?

Reinhold Schinwald: Durch dieses Gelände muss man durch, die Widersprüche aushalten, schlussendlich Entscheidungen treffen und sie dann umsetzen. Das ist oft ein langwieriger Prozess. Im Grunde genommen fühlt man sich als Einzelperson im Alltag gegenüber den äußeren Ereignissen oft sehr ohnmächtig. Und gleichzeitig kommt wiederum Scham über diese Ohnmacht auf. Verzweiflung als Movens sozusagen [lacht]. Schlussendlich wird mir bei solchen Gedanken oft aufs Neue klar, dass das von mir gewählte Mittel der Klang ist. Meines Erachtens braucht die künstlerische Auseinandersetzung auch immer eine Distanz zur Tagespolitik, zum „politischen Apparat“, auch eine zeitliche Distanz zu den Ereignissen.

Kommen wir zurück zu Ihren konkreten künstlerischen Plänen, dem Musiktheaterwerk „RING Modulationen“ etwa.

Reinhold Schinwald: Der Kontext dieses Projekts besitzt allgemein menschheitsgeschichtlich eine umfassende Tragweite – der Kosmos von „Gold und Geld“, was Menschen damit und daraus machen, wie es sie bestimmt.

Wie sieht Ihre kompositorische Herangehensweise aus?

Reinhold Schinwald: Ich habe mich für eine Mischung aus Instrumentalstücken mit Live-Elektronik und rein elektronischen Stücken entschieden. Als Teil der Gesamtdramaturgie will ich den Weg des Geldes auch ein wenig augenzwinkernd nachzeichnen: von einer marxschen Welt, in der das Kapital, das Geld oder Gold noch direkt an ein Material gebunden ist, bis hin zu unserer Zeit, in der es sich entmaterialisiert und als System verselbstständigt hat, was wir als vorläufigen Höhepunkt in der sogenannten Finanzkrise vor einigen Jahren miterleben durften.

Ich könnte mir vorstellen, dass Sie als Toningenieur und als mit Elektronik Komponierender die Elektronik nicht so pauschal als immateriell auf diese Katastrophe hinlaufend interpretieren würden. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen akustischen Instrumenten und Elektronik?

Reinhold Schinwald: Es soll in gewisser Hinsicht ein Kommentar zu diesem Verhältnis sein, wie ich es auch in „fremd körper“ hinterfrage: Was ist der Unterschied zwischen einem live erzeugten Klang und einer Stimme, die vom Tonband kommt und dann noch einmal klanglich durch elektronische Prozesse verändert, manipuliert, denaturiert, entkörperlicht wird? Das verwende ich als Mittel. Ich will damit keine ideologische Aussage treffen; die Deutung überlasse ich dem Publikum. Aber ich reflektiere in dieser Arbeit, dass es einen Unterschied macht, ob sich ein Mensch im Raum mit dem Publikum befindet und ein Stück Holz mit Stahlsaiten und Pferdehaar spielt oder ob der Klang aus Lautsprechern kommt – das macht einen Unterschied, auch in der Art der Materialität. Was ich schon seit Längerem im Hinterkopf habe, ist, eine extreme Verdichtung von Klang mittels Elektronik zu erzeugen, was analog nicht möglich wäre. Andererseits fasziniert es mich, mit analogen Instrumenten digitale Konzepte umzusetzen. Die Arbeit ist also nicht einseitig gedacht und ich hoffe, dass das Ergebnis schlussendlich dialektisch ausfällt.

Welche Kompositionen werden in nächster Zeit zu hören sein?

Reinhold Schinwald: „membra disiecta“ in einer Bearbeitung für Kontrabass und Elektronik wird am 18. April 2018 in der Alten Schmiede in Wien zu hören sein. Den Titel könnte man mit „zerstreute oder zerrissene Glieder“ übersetzen, er bezeichnet aus ihrer organischen Ordnung gerissene Teile eines Ganzen. Der dem Stück zugrunde liegende Text von Gina Mattiello basiert auf den Mythen um „Isis und Osiris“ und beschreibt einen Prozess des Erinnerns, Suchens, Auflesens und Benennens von Körperfragmenten.

Aktuell arbeite ich an einer Komposition für Cello und Elektronik, die am 11. Mai 2018 zusammen mit Arbeiten von Peter Ablinger, Christoph Herndler, Mary McDonnell und Simon Steen-Andersen im Kunstraum Sellemond zu hören und zu sehen sein wird. Es handelt sich dabei um ein Projekt des büro lunaire, das Arbeiten zeigt, in denen bildnerische und klangliche Konzepte gleichermaßen wirksam sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Doris Weberberger

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Reinhold Schinwald (music austria Datenbank)
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