„Alle unter 25-Jährigen eingeladen, kostenlos zu kommen“ – GEORG STEKER und THOMAS DESI im mica-Interview

Georg Steker und Thomas DesiMit sieben Uraufführungen – unter anderem zu aktuellen Themen wie der Griechenlandkrise – legen die MUSIKTHEATERTAGE WIEN mit ihrer ersten Auflage vom 27. August bis zum 12. Septembeeinen formidablen Start hin. Die beiden künstlerischen Leiter GEORG STEKER und THOMAS DESI sprachen mit Heinz Rögl über die Programmierung, ihr Publikum und künftige Themen.

Wie sind Sie zum zeitgenössischen Musiktheater gekommen?

Georg Steker: Das hat sich aus einer studentischen Idee ergeben, selbst Projekte im Bereich Musiktheater zu machen. Begonnen hat es mit Barockmusik, doch dann wurde es uns immer wichtiger, mit lebenden Komponistinnen und Komponisten zu arbeiten. So kam es zu drei Produktionen mit dem Komponisten Jörg Ulrich Krah, der das Melodram über „Romeo und Julia“ des böhmischen Komponisten Georg Benda aus dem 18. Jahrhundert quasi überschrieben hat. Das war ein Übergangsprojekt in das moderne Musiktheater. Darauf folgte mit Krah das Progetto „Mater dolorosa“. Darin ging es um die Bewältigung des Verlusts eigener Kinder. Das Spannende an der Arbeit mit Krah war, dass er vieles erst während des Produktionsprozesses zu komponieren begonnen oder neu komponiert hat: Krah hat während szenischer Proben musikalisches Material für die Darstellerinnen und Darsteller (je eine Tänzerin beziehungsweise einen Tänzer, eine Sängerin beziehungsweise einen Sänger und eine Schauspielerin beziehungsweise einen Schauspieler) angeboten, aus dem diese etwas machen konnten. Letztlich kam es 2013 mit Diego Collattis und Juan Tafurs „Ballade von El Muerto“ über mexikanische Drogenkartelle zu einer Produktion bei den Wiener Festwochen. Im selben Jahr wurden wir eingeladen, bei Wien Modern vier Kurzopern zu zeigen.

Thomas Desi: Als ich Georg Steker kennenlernte, war ich Leiter des Musiktheaters ZOON, das ich inzwischen seit zwanzig Jahren leite. 2011 vernetzte sich die Szene der freien Musiktheaterproduzentinnen und -produzenten in Wien. Das war auch der Start der Zusammenarbeit zwischen Georg Steker und mir. Wir hatten und haben gemeinsame Ansichten darüber, was Musiktheater heute soll und kann. So reichten wir im Frühling 2012 ein Festivalkonzept bei der Stadt Wien ein.

Was verstehen Sie unter „heutigem Musiktheater“?

Georg Steker: Das dramaturgische Erfinden und das Finden der Leute, die das dann umsetzen, gehören für mich dazu. Ich selbst bin kein Regisseur, denke aber intensiv mit der jeweiligen Regisseurin beziehungsweise dem jeweiligen Regisseur oder der jeweiligen Komponistin beziehungsweise dem jeweiligen Komponisten über die Anforderungen nach.

Es geht um die Faktoren Raum, Text, Musik und darum, wie diese in einem Stück aufeinander bezogen werden. Musiktheater ist einerseits abgetrennt von der Idee eines Konzerts, das ja normalerweise nicht inszeniert ist, und anderseits von den Bereichen der Performance und der reinen Improvisation. Es ist immer möglich und spannend, andere Genres – Schauspiel, Tanz, Bewegungskunst, auch Performance – in ein Musiktheater einzubeziehen. Für das Festival wurde entschieden, dass es keine Dirigentin beziehungsweise keinen Dirigenten geben wird, weil es im Werk X keinen Orchestergraben, dafür aber totale Unmittelbarkeit gibt. Da ist eine Dirigentin beziehungsweise ein Dirigent eine optische Irritation, wenn die Darstellerinnen und Darsteller versuchen, emotional etwas zu transportieren.

Wie stehen Sie zu dem schon einmal vom damaligen Wiener Operntheater und von Sven Hartberger geforderten gemeinsamen Haus für zeitgenössisches Musiktheater?

Georg Steker: Für ein Haus zu kämpfen ist derzeit auf der Agenda nicht ganz oben, wiewohl wir etwa mit Michael Scheidl von netzzeit jederzeit über vergangene Erfahrungen sprechen können. Es gibt mehrere Mittelbühnen, die sich vielleicht für eine gemeinsame Musiktheaterbespielung eignen. Anderseits muss man pragmatisch sagen, dass es derzeit keinen erklärten Willen von WIENKULTUR gibt, Geld dafür auszugeben. Natürlich sieht man auch private Geldgeberinnen und Geldgeber, die etwa in Tirol das Festspielhaus Erl finanzieren. Und die Nachfrage für zeitgenössisches Musiktheater ist ja da. Eine Verdichtung eines Hauses würde auf jeden Fall Chancen bieten.

Die Gattung Oper stellt immer noch eine Schwelle dar

Geht das Publikum, das Sie erreichen wollen, über das Neue-Musik-Publikum hinaus?

Georg Steker: Es ist dort zu finden, wo sich Menschen für zeitgenössische Arbeit grundsätzlich interessieren. Wir wollen jene erreichen, die sich etwa Ausstellungen von zeitgenössischen Malerinnen und Malern anschauen, und nicht nur jene, die dem Wien-Modern-Publikum angehören. Auch bei jungen Menschen stellt die Gattung Oper immer noch eine Schwelle dar, daher sind alle unter 25-Jährigen eingeladen, kostenlos zu kommen.

Die in den sieben Stücken angesprochenen gesellschaftlichen Fragen – Flüchtlingsmisere, Immobilienspekulation, Leben in Städten, teures Wohnen, Gentrifizierung, Afrika etc. – waren nicht von vornherein beabsichtigt, sie haben sich in den Gesprächen mit den Beteiligten ergeben. Bei den nächsten Festivals werden bestimmt wieder Fragen gestellt, die politisch, gesellschaftlich und sozial relevant sind. Das könnte zum Beispiel der alternde, vereinsamende Mensch oder das Unter-die-Armutsgrenze-Rutschen der Working Poor sein.

Wie erfolgte die Stückauswahl?

Georg Steker: Das Hinausfahren zu Festivals in anderen Städten fanden wir sehr spannend, das sei allen geraten, die sich für neues Musiktheater interessieren. So ist es zur Kooperation mit dem Leiter der Neuköllner Oper (bei „Pizzeria Anarchia“) gekommen. Das gleiche gilt für Barcelona („disPLACE“). In Athen kann man den künstlerischen Raum von Elli Papakonstantinou finden, die vor allem zeitgenössisches Theater macht und sich kritisch mit der aktuellen Situation in Athen auseinandersetzt („Re-volt Athens“). Die Faszination für O“ von Helga Utz („Stille Wasser“) war schon lange da, besonders, als sie eine Oper in einem Hütteldorfer Schwimmbad machte.

Thomas Desi: Die katastrophale Flüchtlingsmisere, die sich derzeit abspielt, kann natürlich im Theater diskutiert werden, aber nicht auf pseudohilfreiche Art, bei der man das Elend anderer Leute in einem jämmerlichen Abklatsch von Theater zeigt. Das bringt nichts, denn die Wirklichkeit ist viel schrecklicher. Stattdessen versuchen wir, eine Geschichte zu finden, die Afrika selbst hervorbringt, das, was Afrikanerinnen und Afrikaner selbst denken. Kolonialismus, Postkolonialismus und Ausbeutung sind schwierige Themen. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass kaum einer meiner Bekannten Afrikanerinnen und Afrikaner kennt. Nun ist Afrika ein Kontinent, über den man kaum als Ganzes sprechen kann, denn er ist von gigantischer Vielfalt. Ich versuche in dem Stück, hauptsächlich mit Amateurinnen und Amateuren der afrikanischen Communities in Wien zu arbeiten. Es handelt sich etwa um Afrikanerinnen aus dem WUK, um Leute, die in Wien leben und studieren, um eine Rechtsanwältin aus Daressalam, die ein Austauschstipendium über Civil Rights hat, um Menschen, die außerhalb des Wahrnehmungsradius der hiesigen Intellektuellenwelt leben. Es ist eine Entdeckungsreise in einen faszinierenden Bereich unserer Gesellschaft.

Danke für das Gespräch.

Heinz Rögl

Zu den Personen:

Georg Steker war Wiener Sängerknabe, studierte Gesangspädagogik und Kulturmanagement, gründete 2001 das progetto semiserio, betreute Uraufführungsproduktionen bei den Wiener Festwochen und bei Wien Modern, arbeitete bei Linz 09 und war Leiter des Betriebsbüros im Schauspielhaus.

Der Komponist, Autor und Regisseur Thomas Desi begründete KlangARTten, Totales Thetaer, OK Linz, ZOON Musiktheater und betreute vierzig Produktionen in der Garage X, im dietheater Wien, im brut, im Semperdepot, in der Ankerbrotfabrik, im Theater Hamakom und ist Initiator des Netzwerks Musiktheater Wien.

Georg Steker und Thomas Desi © Mangafas

http://www.musiktheatertagewien.at