PETER ANDROSCH ist Komponist, Musiker und Akustikforscher. Mit Markus Deisenberger sprach der Kopf der Linzer HÖRSTADT über menschenrechtswidrige akustische Verhältnisse, unbewusst gelungene Plätze und den Linzer Glockenstreit.
Die Linzer Hörstadt ist getragen von der Überzeugung, dass Akustik ein Politikum ist: „Der von allen geteilte und durch Handeln – vom Sprechen bis zum Autofahren – gemeinsam gestaltete akustische Raum wirkt bis ins Innerste auf unsere psychische und physische Verfassung.“ Ist das bei der Politik angekommen?
Peter Androsch: Nein. Die Bewusstwerdung ist ein äußerst schwieriger Prozess. Wir haben gerade eben ein Konzept zur akustischen Sanierung des österreichischen Parlaments erarbeitet. Das auf den Boden zu bringen, ist ein hartes Stück Überzeugungsarbeit.
War das ein Auftrag?
Peter Androsch: Nein, wir sind ein gemeinnütziger Verein. Das war eine Studie für das Parlament.
„Alle wichtigen Parameter, die akustische Ereignisse formen, sind Entscheidungen der Architektinnen und Architekten […]“
Ich habe Ihren zur Architekturbiennale 2014 verfassten Text gelesen. Können Sie erklären, worum es dabei ging?
Peter Androsch: Das war eine Studie für Christian Kühn, der 2014 den Beitrag zur Architekturbiennale für Österreich leistete. Er hat in Venedig in Betrieb befindliche Parlamente als Modelle ausgestellt. Ich hatte die Aufgabe, zu erforschen, welche Räume akustisch demokratisch sind. Aber zur Frage zurück: Jetzt wird die Ausschreibung erarbeitet. Wir sind der Überzeugung, dass die Akustik eine Frage der Architektur ist und daher nicht an Akustikerinnen beziehungsweise Akustiker weitergegeben werden kann. Alle wichtigen Parameter, die akustische Ereignisse formen, sind Entscheidung der Architektinnen und Architekten: Volumen, Form, Material und Oberfläche.
Aber die wenigsten Architektinnen und Architekten beschäftigen sich eingehend mit Akustik, oder?
Peter Androsch: So ist es. Weil man es delegieren kann. Ähnlich verhält es sich ja auch mit anderen Disziplinen, für die sich die Architektin beziehungsweise der Architekt früher einmal zuständig fühlte: Licht und Haustechnik etwa. Architektinnen und Architekten regredieren zusehends Raumzeichnerinnen und Raumzeichner. Alles andere machen andere Fachleute.
Was kann man im österreichischen Parlament besser machen?
Peter Androsch: Das Parlament ist ein komplexes Gebäude. Im Sitzungssaal sind nun einmal das Reden und das Hören das A und O. Darum heißt das Parlament ja auch so. Man muss schauen, dass die technische Akustik nichts zu sagen hat, weil es die Disziplin ist, die uns die akustischen Verhältnisse, mit denen wir umgeben sind, einbrockt. Sie müssen sich vorstellen: Die Deutschen haben hintereinander zwei Parlamente gebaut, in denen sich die Rednerin beziehungsweise der Redner selbst nicht hört und auch nicht gehört wird. Und da war die Crème de la Crème der Akustikerinnen und Akustiker am Werk. Da merkt man schon, dass es damit nicht weit her ist. Wichtig ist, dass man sich da an gewisse Kriterien hält. Noch viel wichtiger aber sind die Räumlichkeiten, in denen sich die Masse der Beschäftigten aufhält: Gänge, Besprechungsräume, Cafeterien etc. Die Akustik ist ja nicht nur in Plenarsälen und Konzertsälen wichtig. Im Alltag ist sie am wichtigsten. Und der findet vornehmlich an anderen Orten statt.
Wie gehen Sie vor?
Peter Androsch: Punkt eins ist die akustische Ökologie. Die besagt: Schall ist eine Ressource und gehört wie andere Ressourcen auch, Wasser und Luft etwa, bewirtschaftet. Und zwar demokratisch. Damit man das tut, fragt die anthropologische Akustik, welche Schritte die Akustik befriedigt. Da erhält man eine Liste an Bedürfnissen. Und der letzte Schritt ist die inklusive Akustik: Wie kann ich gewährleisten, dass ein möglichst großer Teil der Bevölkerung diese Bedürfnisbefriedigung leisten kann? Das sind die Denkschritte, die wir bei jedem Projekt zu bewältigen haben. Und daraus ergeben sich Notwendigkeiten. Wichtig ist, dass vor dem Planungsprozess die akustischen Ziele definiert werden. Akustik ist ein physisches Phänomen. Immer. Man kann berechnen, was man will. Nur: Die Berechnungen stimmen in den seltensten Fällen mit der Realität überein. Sonst hätten wir doch nicht durchwegs menschenrechtswidrige akustische Verhältnisse.
„Menschliche Kommunikation ist […] ein Grundrecht.“
Inwiefern?
Peter Androsch: Menschliche Kommunikation ist meiner Auffassung nach ein Grundrecht. Sprache zu empfangen und abzugeben ist das Zentrum unserer Existenz. Wenn ich Gebäude habe, die das nicht ermöglichen, ist das ein politisches Desaster.
Wie schwer ist der Kampf um den Erhalt beziehungsweise den Vollbetrieb des Vereins Hörstadt?
Peter Androsch: Wir sind nur vier Leute. Wenn große Projekte anstehen, kommen zwar noch andere dazu, aber de facto können wir gar nicht das leisten, was wir leisten müssen, auch weil alle Beteiligten auch andere Existenzen verfolgen. Im Moment geht es uns aber gut und wir hoffen, dass das so bleibt.
Die Aufgabe der Hörstadt erschöpft sich aber nicht in der Forschung, auch künstlerische Projekte werden verfolgt, wie zuletzt etwa „Sonotopia“ und „Diaspora Maschine“, ein zentrales Projekt der letzten Ars Electronica. Worum ging es bei den beiden Projekten?
Peter Androsch: „Sonotopia“ war der Versuch der künstlerischen Vermittlung, woran wir sonst arbeiten, nämlich dass Raum und Klang auswechselbare Begriffe sind. Wir versuchten, das klarzumachen, indem wir ein Haus zum Instrument machten, seine Resonanzräume, schlichtweg alles, was vibriert, zu nutzen. Und der Bischofshof, der normalerweise nicht zugänglich ist, verfügt etwa mit einem Gewölbekeller über ganz wunderbare Resonanzräume. „Diaspora“ wiederum bedeutet die Zerstreuung der Völker aus ihrer Heimat. Und „Maschine“ haben wir es deshalb genannt, weil wir die bestehende Paketverteilungsmaschine benutzen.
Dabei diente die Postrutsche im ehemaligen Verteilerzentrum am Bahnhof als Aufführungsort und Instrument zugleich.
Peter Androsch: Genau. Das Projekt fiel mit der Flüchtlingskrise zusammen. Die Maschine, der eine Verteilungsfunktion zukommt, wurde als Klangkörper benutzt. Das Schönste dabei sind die Paketrutschen. Unglaublich majestätisch. Und der Sound, wenn etwas zwölf Meter runterrutscht, ist gewaltig.
Sie haben gemeinsam mit Kirche und Gewerkschaft auch lange Zeit einen Preis für besonders aggressive Zwangsbeschallung vergeben.
Peter Androsch: Den Preis gibt es seit 2008. Wir finden aber kaum noch Idioten, die die Musik so laut aufdrehen.
Bei Müller in der Mariahilfer Straße wurde in der Weihnachtszeit eine Hüttengaudi-CD auf Vollmast abgespielt.
Peter Androsch: Schade. Das hätten Sie mir sagen müssen. Die Lautstärke ist aber gar nicht das wichtigste Kriterium, ob ein akustisches Ambiente belastet ist oder nicht. Das besagen auch die neuesten Erkenntnisse der Psychoakustik. In der Außenwahrnehmung aber ist das meistens das einzige Kriterium, das die Leute verstehen. Alles andere ist offenbar viel zu komplex. Das deutsche Amt für Umweltschutz führt ein Drittel aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf akustischen Stress zurück, meint damit aber nicht in erster Linie Lautstärke. „Leiser Lärm“ ist das neue Schlagwort. Da geht es vor allem um Frequenzen und Dauerbeschallung. Bei hohen und tiefen Frequenzen werden beim Menschen schnell Fluchtinstinkte ausgelöst und Stresshormone ausgeschüttet. Wenn du dann eine halbe Stunde laufen gehst, ist alles wieder in Ordnung, weil der Stress abgebaut wird. Wer dagegen im Büro sitzen bleibt, hat auf lange Sicht ein großes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Hat sich das Bewusstsein dafür, dass es in dieser Hinsicht zu ernsten Erkrankungen kommen kann und dass man deshalb mit Dauerbeschallungen sorgsam umgehen muss, in den letzten Jahren verbessert?
Peter Androsch: Oberflächlich sicher, ja. Was sich daran zeigt, dass wir schon zwei Jahre keine derart sorglos mit dem Thema umgehenden Unternehmerinnen und Unternehmer mehr finden, dass wir einen Preis verleihen könnten.
Ich kann mich noch erinnern, dass ich einmal bei Hollister im Einkaufszentrum bei Salzburg war und nicht fassen konnte, dass man es dort als Arbeitnehmerin beziehungsweise Arbeitnehmer länger als eine Stunde aushalten kann.
Peter Androsch [lacht]: Die haben die Trophäe aber eh bekommen. Da wurden wir allerdings rausgeschmissen, als wir die Trophäe verleihen wollten.
Auf welcher Grundlage?
Peter Androsch: Einkaufzentren gelten als private Flächen. Der Witz dabei ist: Zum Geldverdienen gelten sie als öffentlich, für alles andere als privat. Wir durften nicht rein ohne Genehmigung. So konnten wir keine Bilder zeigen. Deshalb haben wir die letzte Trophäe bislang im Café Griensteidl bei einer Pressekonferenz übergeben. Im Café kann uns niemand das Filmen verbieten.
Unser letztes Gespräch liegt mehr als fünf Jahre zurück. Da haben Sie den schönen Satz gesagt: „Eine Milliarde Euro wird pro Jahr für Lärmschutzfenster ausgegeben. Wenn es unsere Arbeit ermöglicht, ein Prozent weniger dafür auszugeben, dann schwimmen wir schon im Geld.“ Und: Schwimmt man mittlerweile im Geld?
Peter Androsch [lacht]: Ein Prozent wären zehn Millionen. Da sind wir weit davon entfernt. Das Phänomen ist aber leicht erklärbar: Fahren Sie nach Bayern, dort werden Sie weit und breit keine Lärmschutzwand finden. Raumplanung ist dort eine übergeordnete Kreissache und nicht wie bei uns Gemeindesache, wo die Bürgermeisterin beziehungsweise der Bürgermeister mit Partikularinteressen gelöchert wird. Da sieht man recht deutlich, dass Raumplanung eigentlich die Königsdisziplin der Akustik wäre.
Was muss passieren, dass sie das auch tatsächlich wird?
Peter Androsch: Um ehrlich zu sein: keine Ahnung. Wir freuen uns, die Sachen bearbeiten zu können. Der Druck wird größer. Der ländliche Raum dünnt aus, die Ballungsgebiete werden dichter besiedelt. Akustik wird so zur ökologischen Frage der Zukunft. Und zwar ganz ohne Kulturpessimismus. Wer wird gehört, wer bekommt Stimme. Kinder, die in verlärmten Gegenden aufwachsen, erlernen Sprache viel schwerer. Das ist wissenschaftlich beweisen. Das sind Verzögerungen, die nicht mehr aufzuholen sind.
Wenn man sich die aufgezeichneten Gesprächsrunden auf der Hörstadt-Homepage anschaut, fällt auf, dass die Themen kaum breiter gefächert sein könnten: Es wird über alternative Musiktherapien, Schulraumakustik und akustische Raumplanung debattiert. Die Bandbreite der Themen, derer man sich annimmt, ist also enorm. Absicht oder Zufall? Problem oder Chance?
Peter Androsch: Das sind Gespräche zur akustischen Kultur, das ist naturgemäß weitgefächert. In der Hörstadt selbst wird der Wirkungskreis dann schon eingedampft auf einige wenige Betätigungsfelder: Akustik und Architektur, Akustik und Barrierefreiheit. Hochabsorbierende Flächen stellen etwa ein ziemliches Problem für blinde Menschen oder Menschen mit Hörbeeinträchtigung dar.
Warum?
Peter Androsch: Weil sie die Reflexion brauchen. Ein gesunder Mensch kann das Fehlen von Reflexion durch andere Sinneseindrücke kompensieren. Das nennt man Sinnesintegration. Beeinträchtigten Menschen gelingt das oft nicht, was von Verwirrung bis zu vollständigen Zusammenbrüchen führen kann.
Alle Eindrücke werden im Gehirn praktisch zu einem Bild hochgerechnet. Und dieses Bild muss widerspruchsfrei sein. Widersprüche führen zu einer Art Seekrankheit. Und das ist kein Einzelfall: Da unsere Gesellschaft immer älter wird, sind schätzungsweise 40 bis 45 Prozent von dieser Problematik betroffen. Räume mit extremer Dichotomie zwischen Reflexion und Absorption sind problematisch.
Was wurde aus der „Linzer Charta“?
Peter Androsch: Die gibt es, aber das war es dann auch. Die Politik hat das nicht mehr weiterverfolgt. Eine Ausnahme: Haben Sie vom Linzer Glockenstreit gehört?
Ja. Ein Anwalt klagt, weil er sich durch die nächtliche Glockenbeschallung gestört fühlt.
Peter Androsch: Genau. Und ich halte diese Klage, obwohl ich ein wenig befangen bin, weil wir immer wieder hervorragend mit dem Dom zusammenarbeiten, für berechtigt. In Wien gibt es schon seit den 1960er-Jahren kein nächtliches Glockengeläute mehr. Das hat Kardinal König abgeschafft. Die Argumentation damals: Die Lebensumstände der Menschen haben sich so geändert, dass sie keine nächtliche Uhrzeit mehr brauchen, und auch die Strukturierung durch die Kirche nicht. Viel wichtiger ist der Schlaf, also drehen wir ab. In Wien werden Sie zwischen 22:00 und 06:00 Uhr morgens also keine Glocke hören. Die Glocke ist ja ein Paradebeispiel für akustische Hegemonie. Wer einen Raum besetzen will, macht das akustisch. Sie müssen sich auch vorstellen: Die Glocken des Mariendoms läuten 280-mal in der Nacht. Das ist also nicht so, dass da nur ab und zu etwas vor sich ginge. Im Gegenteil: Das ist eher eine Glockenkaskade. Mich interessiert dabei, dass endlich einmal die Frage der akustischen Hegemonie behandelt werden könnte. Ich wünsche mir daher, dass der Fall möglichst in die letzte Instanz kommt und sich der OGH mit dieser Frage beschäftigen muss. Bislang aber ging es wieder nur – wie immer – um Dezibel und sonst nichts.
Und das Argument, dass es immer schon so gewesen sei, zählt nicht?
Peter Androsch: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mesnerin beziehungsweise der Mesner früher alle fünfzehn Minuten aufstand, um die Glocke zu läuten. Es ist also nicht so, wie oft suggeriert wird. Man muss die historische Komponente schon genau anschauen. Mir gefällt der Name „Linzer Glockenstreit“ so gut. Das kommt gleich nach dem „Prager Fenstersturz“.
Haben Sie so etwas wie einen akustischen Lieblingsort in Linz?
Peter Androsch: Mein Atelier. Es ist sehr ruhig, liegt in einem Arbeiterviertel. Wo früher im Erdgeschoss der Nahversorger war, sind jetzt Künstlerinnen und Künstler. Hohe Wände, tolle Atmosphäre. Und: der Vorplatz des neuen Ars-Electronica-Gebäudes. Die Fassade ist eigentlich sehr misslungen, aber akustisch funktioniert der Platz bestens. Nicht ohne Grund sammeln sich dort Abend für Abend Jugendliche, um die Nacht zu verbringen. Man versteht sich gut und nimmt gleichzeitig auch das akustische Ambiente der Umgebung wahr. Der Platz ist unbewusst gelungen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Markus Deisenberger
Bild: (c) Peter Androsch
Link: kulturquartier.at/peterandrosch