mica-Interview mit Mario Rechtern

Mario Rechtern ist seit Jahrzehnten ein freier Jazzmusiker durch und durch, von Spiel- und Lebensweise bis zur  philosophischen Hinsicht. So konnte er auch gleich einhaken, als der bei einem Telefonat festgelegte Interviewtreffpunkt zu einem Missverständnis führte: Mario Rechtern nahm im Billard-Café Weingartner Platz – Clemens Marschall, der zum Gespräch bat, wartete im Billard-Café Weidinger. Schließlich schafften sie es doch an ein und denselben Ort – und Mario Rechtern verband den Umstand sofort mit seiner improvisatorisch geprägten Jazz-Denke:

Mario Rechtern: Dadurch kann man die ganze Anschaulichkeit verkürzen, natürlich ohne Vorwurf: Aber das ist die Tücke des menschlichen Geistes, an bekannten Formen anzuhängen und dadurch in die Irre geleitet zu werden und aber zu glauben, man liegt richtig. Das gibt es in der Musik auch, grade in der improvisierten: die Vorabschätzung dessen, was jetzt zu geschehen habe oder was jetzt geschieht, die vollkommen daneben ist von dem, was wirklich geschieht. Denn das wird durch das, was geschieht, definiert, und nicht durch das, was man vorher glaubt, dass geschehen wird.

Und wie kann man da drauf reagieren?

Mario Rechtern: Ja, „reagieren“ ist schon ein Wort zur Korrektur, das nimmt schon die Antwort etwas vorweg. Wie man reagiert drauf, ist, dass man zurücknimmt, wenn man merkt, man hat jetzt was Falsches vorab vermutet.
Da geh ich jetzt in die Realität zurück, als ich noch oft gespielt habe im Celeste: da wurde mir vorauseilend der Ruf eines sehr lautstarken, kräftigen Tons umgehängt – und kaum stell ich mich auf die Bühne und spiele mit jemandem denke ich mir: „Warum drehen die alle so auf?! Ich will doch was ganz anderes spielen!“ Das kann man aber auch umdrehen, wenn sie wissen, dass ich das nicht mag, dann fangen sie ganz leise an zu spielen mit dem Handtuch auf den Trommeln: „Was will der von mir?! Die Musik ist ja noch gar nicht da!“

Aber irgendwie muss man ja dann anfangen.

Mario Rechtern: Ja, das ist ja der Punkt: man fängt so an, dass man austendiert: „Was passiert jetzt eigentlich?! Was ist jetzt eigentlich los?!“
Ich spiel jetzt nicht mehr im Celeste, da eilt mir zu sehr der Ruf voraus, dass ich ein lauter Spieler bin – wobei keiner weiß, was leise spielen ist. Da gibt’s diesen Satz, sagt jemand zu mir im Celeste: „Can you play silent also?“ Dann sag ich: „Silent? Ich soll also überhaupt nicht spielen?“ Silence gibt’s ja gar nicht – der meint natürlich soft. Aber was ist soft spielen? Im grauen Nichts herunter? Oder soft als Teil einer Dynamik, wo auch laute Ausbrüche Platz haben – aber diese Beweglichkeit finde ich kaum bei Menschen, weil da die Prädestination herrscht, jetzt mithalten zu müssen.
Erzwingen kann bei mir keiner was, außer die Musik, die passiert – und nicht die Musik, die passieren soll. Musik, die passieren soll, ist keine Musik.

Ich glaub, das ist die schlechteste Art, wie man sich annähern kann, dass man vorher festlegt: „Heut muss es lustig sein!“ oder „Todernst!“

Mario Rechtern: Diese ganzen Hinweise, die überall passieren!
Wenn ich mich ganz runterschraube, komme ich in einen Musikstil, den ich nicht will: diese Romantik, diesen romantischen Impressionismus, der wieder vollgeladen ist mit Symbolen. Für mich geht’s bei der Musik um das beinharte Material, reale Musik zum Anfassen, der Ton muss so körperlich sein wie Cecil Taylor sagt: „Wenn du den Ton hast, dann muss der Sessel unter dir schwingen – sonst ist er nicht da!“ Sonst ist es nur Anpassung und es geht nicht um Anpassung – es geht um Äußerung. Und je mehr du hast im Leben, desto stärker wird die Äußerung. Und dann setzt die Dynamik ein – dann geh ich natürlich auch runter.

Du hast ja immer wieder gewisse Spielformen.

Mario Rechtern: Man muss das hören oder selber analysieren, dann kommt man vielleicht zu anderen Formen des Ausdrucks wegen der Sprache: talking, singing, thinking – und dann wäre dagegen silence, aber silence gibt’s nicht – also nenn ich das brooding – weißt du, was brooding ist?

Brooding? Brüten?

Mario Rechtern:
[in jammernder, lamentierender Intonation] „Du willst nicht, dass ich spiel, du bist ja so ein Arschloch, bla bla bla bla bla, ich muss jetzt auch, ich mag aber nicht…“

So dahin sudern?

Mario Rechtern: Ja. Thinking geht bip-bip-bip, oder wie die Erbensuppe blop-blop-blop – bei manchen kommt’s so, bei manchen so. Singing ist cantar jubilar [lacht], und talking ist [ganz schnell] dawiduwadamadawawadwa – also das Perkussive im Gespräch.

Das machst ja du auch auf der Bühne.

Mario Rechtern: Das mach ich permanent, ich mach eigentlich nichts anderes. Das ist der ganz einfache Schlüssel, und wenn ich leise werde, dann mach ich das Sudern unten drunten. Dann hab ich auch diese komischen Techniken entwickelt. Ich hab damals mit DMN angefangen, Saxophon mit Elektronik zu verbinden, obwohl das Saxophon das No-No-Instrument für Elektronik darstellt, weil es eben gewisse Dinge, die man mit der Trompete machen kann, nicht so leicht erlaubt, ohne die Technik vollkommen zu ändern. Aber ich hab dann angefangen, Saxophon zu spielen mit gleichzeitiger Tonabnahme über einen Verstärker, was die Lautstärke dann verdoppelt.
Mittlerweile bin ich dazu in der Lage, dass ich mit meinen Instrumenten einen Sound erzeuge, der elektronisch klingt und mir andere Musiker sagen: „Du brauchst keine Effekte, weil die hast du alle am Instrument selber.“ Aber das ist aus der Zeit entstanden.
Ich hab mittlerweile mit meinen Spielformen den ganzen Bereich des Saxophons weit überschritten. Das Saxophon ist von Anfang an als Instrument zwischen Klarinette und Trompete gedacht. Die erste Verwendung des Saxophons war ein Alt-Saxophon hinter dem Vorhang für einen Chor, als Stimmleitinstrument für die Dirigentengeschichte, der auf das Alt-Saxophon dirigiert hat – und dem sind dann die Sänger gefolgt.

Gehen wir mal zu deiner persönlichen Geschichte, dein Weg ist ja sehr verzweigt. Soweit ich weiß, bist du in Berlin zur Welt gekommen und dann in Hamburg aufgewachsen.

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

Mario Rechtern: Korrektur: in Bayern aufgewachsen, an der Grenze zu Österreich, südlich von Rosenheim, Samerberg. Ich bin als Kind, bis ungefähr 1950, am Samerberg aufgewachsen.

Du bist 1942 geboren.

Mario Rechtern: Genau. Und dann bin ich in den Wirren der Kriegsjahre nach Hamburg gekommen. Meine Mutter ist aus einer politischen Familie, die hat im Krieg genau erkannt, worum’s geht. Dann wurde man in Berlin evakuiert in das heutige Polen. Die hat natürlich fluchtartig diesen Evakuierungsort verlassen, weil sie genau wusste, was da passiert und ist nach Oberbayern in die Berge. Das war auch tatsächlich ein sehr sicherer Ort, nicht aufzufinden damals. Mein Vater ist aber damals als Architekt in Hamburg geblieben und hat dort sein Architekturbüro aufgebaut. Das hat eine zeitlang gedauert, aber dann sind wir auch nach Hamburg gekommen.
Die Jugend in Hamburg war enorm inspirierend. Das war wirklich zwischen 1950 und bis ich so 1961, 1963 zurück nach Berlin kam, extrem geprägt von englisch-amerikanischem Kulturgut über den Londoner und skandinavischen Filter. Es wimmelte damals zwar nur so von den typischen norddeutschen Dixieland-Bands, Viking Stompers und so ein Scheiß [lacht], aber meine Schulzeit in Hamburg war enorm geprägt vom afroamerikanischen Syndrom als Wurzel des Jazz – nicht von den Lehrern, sondern meinen Freunden. Dann diese ganzen Hendrix, Blues und sonstigen Sachen. New Orleans, Bebop, Hundertwasser hatte eine Professur an der Akademie, die Beatles, die ich kannte, bevor sie bekannt wurden, weil die ja in Hamburg gespielt haben.
Es hat dann diese Bands von Mitschülern gegeben, die alle irgendwo zwischen Swing und Revival und Bebop – wenn sie’s konnten – angegliedert waren, wo ich mich aber nie so eingelassen hab. Ich hab auch schon damals frei improvisiert gespielt. Das wurde auch irgendwie angenommen, aber immer mit dieser komischen Sonderrolle: „Ja, du kannst mitspielen, da spielst du mal hier ein Solo. Wenn du das Thema kannst, kannst du das auch mitspielen.“ Das war aber bei dieser Musik damals noch so, dass es diesen Unisono nicht gab – da ist es extrem durcheinander gegangen und das hat mich sehr stark geprägt. Das ist diese New Orleans-Wurzel.
Im Rückblick erinner ich mich an meine Pausenlektüre, das waren Bildbände von den ersten afroamerikanischen Musikgruppen. Das hab ich ziemlich intensiv durchgelebt.

Hamburg ist wirklich eine sehr offene Stadt, der Hafen funktioniert als Tor zur Welt und das öffnet den Horizont so nebenbei, ganz automatisch und unbewusst.

Mario Rechtern:
Ja, das war damals ein Wahnsinn, auch in der Malerei. Mein Weg war ja damals nicht nur die Musik, das ging parallel – es war eher die Bildende und das war genauso offen.

Und wie war das musikalische Elternhaus? Ich hab mal wo gehört, dass du im Wald heimlich Saxophon üben musstest…

Mario Rechtern:
Ja ja… das ist authentisch, das stimmt. Also das Elternhaus war – ohne, dass ich denen jetzt irgendwas am Zeug flicke – aber das war natürlich, was soll man anders erwarten aus dieser Generation, konservativ-repressiv geprägt. So Sätze wie: „Das ist klar, in deiner Jugend magst du die Klassische nicht, aber du wirst draufkommen, dass die Klassische doch das Höchste ist.“ – diese ganze Kulturchauvinismus-Scheiße. Das hab ich wahnsinnig abgelehnt, weil ich durchschaut hab, worum es da geht.
Interessanterweise gab es auch diese vollkommene erzieherische Scheinheiligkeit im Sinne des Kulturchauvinismus. Wir haben in der Nordsee eine Windmühle zum Wohnen ausgebaut, das hat mir sehr gut gefallen: ein baufälliges, altes, zweckgebundenes Gebäude umzubauen und dort Wohnqualität zu schaffen.

Das war keine Ferienhütte, sondern richtig zum Wohnen?

Mario Rechtern: Richtig zum Wohnen, ja, nicht Schickimicki. Ich war da auch sehr gerne, die Windmühle war noch betätigbar, aber das wurde durch die Kleingeistigkeit der Umgebung verhindert: „Ja, Sie brauchen da einen Müller-Führerschein, Sie dürfen das nicht, das muss blockiert werden…“ Wenn das nicht passiert wäre, wäre das zu meines Vaters Zeiten sicher noch zur Stromgewinnung verwendet worden – aber das war damals noch kein Thema, nur wir haben darüber gesprochen.
Und in diesem Zusammenhang hab ich festgestellt, dass mein Vater eine komplette Jazz-Sammlung in dem Haus versteckt hatte: New Orleans bis Cool und Modern Jazz – vollständig.

Woher hat er die gehabt?

Mario Rechtern:
Die hat er gesammelt.

Aus Eigeninteresse?

Mario Rechtern: Aus Eigeninteresse. Heimlich. Diese Scheinheiligkeit! Darauf angesprochen meinte er: „Ja, ich muss doch wissen, worüber ich rede.“
Das ist symptomatisch für so vieles, was in dieser Zeit passiert ist. Auch, dass zu der Zeit bekämpft wurde, dass ich „nur“ improvisierte Musik mache. Klarinette habe ich spielen dürfen – Saxophon nicht. Saxophon hab ich im Keller versteckt und bin in der Nacht heimlich ausgestiegen und hab’s im Wald gespielt. Ich hab das Saxophon, als das aufkam, auch wieder abgeben müssen.

Woher hast du das gehabt?

Mario Rechtern:
Aus der Schule. Nach einem Jahr hab ich es wieder zurückgegeben. Das heißt aber nicht, dass ich das Saxophonspielen damit aufgegeben hab.

Der Plan, dich dem freien Saxophon zu widmen, ist also schon in der Schulzeit gekommen?

Mario Rechtern: Das war schon in der Schulzeit, das war alles für mich klar.
Nach den 1950er Jahren, als ich wieder in Berlin war, sind die Familienprobleme eskaliert. Ich hab mich dumm gehalten gefühlt und das hat eine ziemliche Dunkelheit erzeugt weil ich wusste, wenn ich gewisse „intelligente“, kalkulative Erkenntnisschritte setze, werde ich bestraft, das heißt, es wird repressiert – diese ganzen Schizophrenie erzeugenden Momente.
Ganz kurz gesagt: Schizophrenie entsteht durch Repression des Ausdrucks aufgrund bestimmter Vorbedingungen in der Familie, wo eine geistige Ausrichtung verboten, die andere gefördert wird. Dadurch entstehen Spaltungen, die anfangs überwunden werden durch Codierungen – deswegen wird die Sprache nicht mehr verstanden; dann kommt die Revolte – die wird meistens unterdrückt; und dann setzt sich die Codierung fest – entwickelt Stoffwechselveränderungen usw. Das ist jetzt verbrieft. Dass das genetisch angeboren ist, ist vollkommener Schwachsinn – das ist ein gesellschaftliches Konstrukt, was sich natürlich dann genetisch festsetzt durch Stoffwechselumschichtungen.
Diese Sachen waren klar für mich und da hab ich Gott sei Dank in Hamburg einen sehr guten Psychotherapeuten gehabt, zu dem mich die Eltern gebracht haben – und der hat meinen Eltern gesagt: „In einer Woche ist der Bub weg oder ich mach eine Anzeige.“
Das war der Grund, warum ich dann meine Schule in Berlin beendet hab. Und das war so ein gewaltiger Sprung, den kann ich nur jedem ans Herz legen! Aus dieser Verdunkelung und Umnebelung zu einer völligen Klarheit – bumm! – da war es plötzlich hell. Ich hab für die Schule nicht mehr lernen müssen, ich hab das nicht mehr gebraucht, weil ich Konzentrationsfähigkeiten hatte, dass ich das nicht mehr nachlernen musste. Nach der Schule hab ich nur geschlafen und gegen Abend ein bisschen Hausübungen gemacht, wie jeder andere auch – aber nicht den ganzen Tag da oben sitzen und büffeln und gegen diese Dunkelheit kämpfen. Da ist mir der Gedanke gekommen: „Diese Dunkelheit will ich nie wieder – ich lasse mich nie wieder dumm halten.“

Das ist extrem wichtig, dass du diesen Sprung schon sehr bald gemacht hast.


Mario Rechtern:
Der Sprung war super! Das war so deutlich.

Später hast du am Mozarteum in Salzburg studiert.

Mario Rechtern: Nach dem Abitur bin ich zurück nach Bayern gegangen, wieder Samerberg. Ich hab dort eine Tischlerlehre gemacht weil ich gesagt hab: „Ich hab jetzt so viel in die Geistigkeit investiert – dabei kann ich nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen.“
Das ist einer der wesentlichen Schritte für mich, dass ich durch die Tischlerlehre gelernt hab, was für ein Fundament unter diesem ganzen geistigen Überbau eigentlich ist, an Handwerklichem, Präzision,… Das wurde auch im Sinne des Kulturchauvinismus als „Handwerker“, „Arbeiter“ heruntergemacht: „Wenn du nicht spurst, kommst in die Lehre!“
Und ich hab das eben deswegen dann absichtlich gemacht, das war provokant in gewissem Sinne, aber auch eine Basis für das, was ich später gemacht habe.
Ich bin nicht lange in Bayern geblieben, hab meine Lehre dann in Berlin vollendet – und bin von da aus ins Mozarteum studieren gegangen.

Da hast du Bühnebild studiert?


Mario Rechtern:
Genau.

Hast du Violine auch mal studiert?

Mario Rechtern: Violine hab ich als Kind gespielt, noch vor der Klarinette.
Und dann hab ich im Mozarteum in zwei Jahren das gemacht, was eigentlich mindestens vier Jahre dauert, mit Auszeichnung abgeschlossen und dann war ich sofort weg, nach Persien,…

Wie alt warst du da? Nur, damit ich eine zeitliche Einordnung hab…

Mario Rechtern: Um die 23. 1967 bin ich zur Farah Diba Krönung als Bühnenbildner verkauft worden. Die haben da zur Krönung ein Opernhaus eröffnet, mit dem ganzen Schmus vom Schah, was er alles Tolles gemacht hat, Blablabla,…

Dem Herrscher ein bisschen huldigen.

Mario Rechtern: Auf die billigste Art.
Aber danach hab ich mich stark an orientalischen Skalen orientiert. Man fängt auf der banalsten Ebene an, geht die Skalenentwicklungen nach, daraus entwickelt sich eine Entwicklung in der Improvisation…

… dann kriegt man irgendwann den eigenen Zugang.


Mario Rechtern:
Genau, genau, dann kann ich das verbinden mit den Blues-Geschichten und afroamerikanischen Traditionen – genau das ist auch der Fall gewesen, und das geht dann immer weiter, immer weiter. Ich hab dann auch angefangen, das Saxophon als perkussives Instrument zu verstehen. Das sind Entwicklungsprozesse, sich das Instrument so herzurichten, wie man es braucht.

Mhm, das hört wahrscheinlich auch nie auf.

Mario Rechtern:
Das geht ewig weiter. Wenn das einmal anfängt, kann das gar nicht mehr aufhören. Das geht einerseits in die Tonentwicklung hinein, dass ich begonnen habe, meine Mundstücke selbst umzubauen. Ich präpariere seit über 40 Jahren Mundstücke, schleife sie um,…

Du warst dann in Prag, Wisconsin – und irgendwann in den 1970ern bist du in Wien gelandet.

Mario Rechtern: Ich hab während meiner Mozarteum-Zeit Kontakte nach Prag gehabt, zu einer Forschungsanstalt des Prager Frühlings. Da hab ich sehr viele Anregungen für eine neue Art der Bühnengestaltung erhalten.
Das hat keinerlei musikalische Zusammenhänge – außer, dass über diese Theatersache – das zeigt sich heute immer mehr: dass das, was ich an Musik mache, immer einen theatermäßigen oder dramatischen Aspekt hat.

Du meinst von der Aufführung her?

Mario Rechtern:
Mhm, von der Aufführung her, aber auch von der musikalischen Gestaltung. Ich will keine Geschichte, nichts aufladen mit irgendwelchen Symbolen, sondern vom Material her arbeiten. Ich will keine lebendige Geschichte – egal, ob man die jetzt nacherzählen kann oder nicht, aber das hat dann keinen musikalischen Sinn für mich. Diese l’art-pour-l’art-Geschichte, das war in den 1950er Jahren mal, aber dann war’s vorbei. Und wer das heute noch macht, lebt noch damals. Die Musik hat einen ganz klaren Aspekt ins Leben. Ich wollte immer so spielen, wie ich mit meiner Großmutter rede. Es gibt eine Aussage – nicht dominierend oder manipulierend, aber vermittelnd, irgendwas sagen. Deswegen hab ich dann angefangen, sehr viel ins Saxophon hineinzureden, ohne Worte zu verstehen, sondern von der Diktion her, von der musikalischen Form des Redens – talking.

Du strahlst auf der Bühne wirklich eine wahnsinnige Vitalität aus – dass du 70 bist, würde man nicht glauben. Ich hab schon verschiedene Leute gefragt, wie alt sie dich schätzen: die meinten alle so Anfang, Mitte 50.


Mario Rechtern:
Das hat mit dieser Dramatik zu tun und dieser Aktion – das ist einfach lebendig, das ist die lebendige Form der Kommunikation. Ich möchte aber nicht meine Seele auskotzen, da geht es nicht um facebook-Selbstillustration. Es geht um was anderes – aber auch aus sich heraus. Nicht auf irgendeinem Illustrationsobjekt aufbauend – „Hoffmanns Erzählungen“ – dazu mach ich jetzt Zeichnungen? Nein! Zeichnungen aus mir heraus, ich bin das Objekt. Wie die amerikanischen Filme, die alten Western-Filme, wo es nicht um die Interpretation einer Persönlichkeit geht, sondern um das Hineinschlüpfen in eine Rolle, die ich jetzt in meiner Persönlichkeit, wenn ich jetzt in dieser Situation wäre, so leben würde – das ist was ganz was anderes. Das ist nicht wie man mir am Theater immer gesagt hat: „Ja, du bist doch Künstler, du musst dir das doch vorstellen können und dann so tun als ob.“ Da hab ich immer gesagt: „Es geht nicht um so tun als ob, es geht ums Wirkliche.“ Ich muss diese Figur werden und die wird dann mit meiner eigenen Persönlichkeit ausgestattet, dann wird sie menschlich.

Ich hab vor ein paar Tagen ein Interview mit Jörg Fauser gelesen, der gesagt hat, man soll wirklich nur über Dinge schreiben, bei denen man sich auskennt, dass der scharfe Blick zählt. Das heißt nicht, dass das alles autobiographisch sein muss, aber man muss das Milieu kennen, das man beschreibt, aus dem man schöpft.

Mario Rechtern:
Was man erlebt hat, aus dem heraus.

Genau. Aber sich nicht als coolen Hund darstellen, sondern einfach daraus schöpfen.

Mario Rechtern: Ja, ja, das ist auch genau das, was ich mit der Linda [Sharrock] mache, seitdem ich mich um sie kümmere. Einerseits bin ich wahnsinnig belastet, jemand anderer würde wahrscheinlich aufhören zu spielen, weil er keine Zeit mehr hätte, während ich mir sage: Diese Belastung füllt mein Leben so an, jetzt hab ich so viel Material, über das ich spielen kann – warum soll ich das nicht umsetzen? Und dadurch läuft das parallel. Ich merke, dass, seitdem ich das mache, ohne dass ich sie ausbeute – weil das tu ich dabei nicht – mein Spiel bekommt eine andere Wirkung. Ich denke beim Spielen nicht nach, ob ich meinen Schlüsselbund zu Hause vergessen habe, sondern ich denke an die Geschichte mit Linda – das bricht dann heraus aus mir, das wird authentisch – und das merkt dann jeder. Das ist auch das Bindeglied, warum es funktioniert, dass ich mit ihr spiele – sie merkt das ja auch.

Seit wann pflegst du die Linda?

Mario Rechtern: Seit 2004. Ich kenn die Linda seit 1986, ich hab mit ihr beim [Fritz] Novotny in einer größeren Band gespielt. Wir haben uns sehr gut verstanden, aber dann hab ich sie aus den Augen verloren, ich hab an ihr kein persönliches Interesse gehabt. Sie war eine sehr gute Musikerin für die Band, das fanden wir alle. Ich hab sie erst dann wieder getroffen, als da offensichtlich Schwierigkeiten waren in der Partnerschaft mit [Wolfgang] Puschnig, Mitte der 1990er. Da hab ich gemerkt, dass sie Probleme hatte. Sie war schwerst abhängig. Ich hab ihr vorgeschlagen, ihr zu helfen, sie nach London zu bringen – ich bin dann aber alleine gefahren, da war der Kontakt wieder vorbei.
2004 kommt dann diese Bekannte, eine frühere Schülerin von mir, und sagt, ich soll mal bei Linda vorbeischauen. Das war’s. Wir sind gemeinsam zu ihr und da hab ich sie vorgefunden, wie einen KZ-Häftling, 36 Kilo, vollkommen desorientiert, wie ein – das klingt vielleicht rassistisch, hat aber mit Rassismus nichts zu tun – wie ein Tier, vollkommen zu, auch in der ganzen Gestik.
Das hab ich nicht so lassen können. Ich bin sofort zur ersten Hilfe geschritten und sie hat das sofort angenommen. Seitdem betreue ich sie mit Therapie, mit Langzeitkrankenhausaufenthalten,…

… und spielst auch noch Konzerte. Eine Sache, die dich schon seit Jahren begleitet, ist dieses Taferl, gegen das du spielst – was hat es damit auf sich?

Mario Rechtern: Das kommt aus der Zeit, wo ich mit Dieter Feichtner gespielt hab, einer der ersten und wirklich größten Elektroniker. Das war einer der ersten, der den Moog gespielt hat, als der Moog rausgekommen ist. Mit dem bin ich sehr lange befreundet gewesen und wir haben zusammengespielt. Er hat mit diesen irrsinnigen Marshall-Boxen gearbeitet, das war so überwältigend – da hab ich mit meinem Saxophon kein Leiberl gehabt. Ich hab dann probiert mit ihm über den Synthesizer zu spielen – aber da war ich dann abhängig von ihm, wie er das einstellt, das hat auch nichts gebracht. Mikrophon war nicht interessant, weil der Mikrophon-Ton vom Saxophon über die Boxen nie mit dieser elektronischen Vielfalt des Sounds mithalten kann, sondern eigentlich den Naturton des Saxophons sogar eingrenzt.
Ich bin dann auf die ganz einfache Lösung gekommen, mir einen Reflektor aufzustellen. Das ist also ein Reflektor, der ein bisschen besser arbeitet als eine Holz- oder Metallplatte. Ich hab mit verschiedenen Sachen experimentiert, auch mit Becken, und so ein Asmanit als besonders hartes Plastik funktioniert sehr, sehr gut, weil ich dann auch den Winkel einstellen kann. Es macht den Ton etwas seidiger, weil die Bässe durchgehen, aber die verständlichen Höhen kommen zurück – Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, das kann ich direkt auf meinen Kopf einstellen. Ich höre dann diese umfassende Klangfülle, das hat auch in Bands – ich hab ja auch viel in Rockbands gespielt – gut funktioniert.
Ich dreh das auch, dann muss ich nicht extra hingehen, sondern ich kann Musiker direkt damit ansprechen. Ich kann vorbeispielen, drüberspielen,… Das ist ein ungeheures Hilfsinstrument.
Ich hab dann auch Quintenzirkel mit Farbgestaltung entwickelt, das sind die Zeichnungen, die geometrischen Muster, die da noch drauf sind, die ganz klare harmonische Relationen haben.

Kannst du mir sagen, wann du L.ABOP bzw. L.ABOR gegründet hast und wie sich das entwickelt hat?

Mario Rechtern: [lacht] Das ist mir fast peinlich, weil ich mit meiner assoziativen Vergangenheit nicht gerne ausbeuterisch umgehe, aber: Ich hab einen Onkel – keinen Blutsonkel –, aus der Freundschaft meiner Mutter. Von dem hat meine Mutter sehr viele Konzepte und Geisteshaltungen übernommen, die sie an mich weitergegeben hat – im Gegensatz zu denen von meinem Vater, was wieder auf diese Schizophrenisierung hindeutet, mit der repräsentativen Pseudogemeinschaft. Der Onkel, Hans Kaiser, hat Geige und Saxophon gespielt [lacht] – ohne, dass ich das wusste. Und der hat sich mit dieser logarithmischen Akroasis beschäftigt.

Was ist das?


Mario Rechtern:
Das war in den 1920ern oder auch vorher abgeleitet aus dem Monochord, Tonunterteilungen, Logarithmus-System für die Naturtonarten, usw., da hat er ein Kompositionssystem der Zuordnung dieser Sachen entwickelt, nach der sich alle von Hindemith bis Schönberg gerichtet haben. Das war damals die geistige Haltung – es war also nicht so, dass er das da geschaffen hätte, sondern das war in dem Kontext. Der hat in dieser Arbeit, weil es sich ja um die Basis und Grundlagen von Harmoniewissenschaft handelt, mich zu dem Titel L.ABOP inspiriert. Das heißt „Laboratorium for” – der Punkt steht für das griechische H – „Harmonic Basics and Open Products“ bzw. „Laboratorium for Harmonic Basics and Open Rehearsal“ – das ist die Grundlage für improvisierte Musik.
Mitte der 1970er, ca. zehn Jahre nach Persien, war ich in Wisconsin, und im Grunde ist mit da der Gedanke zu L.ABOP/L.ABOR gekommen:  Da habe ich als Gasthörer für African-American Studies am Music Department der University of Wisconsin in einem open rehearsal black music orchestra von Jimmy Cheatham gespielt und dann im Jahre 1981  die  Sache gestartet.

Existiert das Label L.ABOP heute auch noch?


Mario Rechtern:
Ja, das existiert heute nach wie vor – ich tu nur nix damit.

Du hast ja keine Homepage, oder?

Mario Rechtern: Nein, L.ABOP war auch meine Homepage, aber ich glaub nicht mehr an den ganzen Scheiß. Es bringt nichts. Google macht das von alleine und jeder, der mit mir spielt oder was macht, setzt das ins Netz und dann hab ich wieder was drinnen. Das ist viel intensiver und wahrheitsbildender als die selbstgestaltete Homepage.
Ich hab einen Grundgedanken in der Musik: Ich will nicht eingreifen in das, was ich spiele – let it breathe. Deswegen höre ich auch meine eigenen Aufnahmen und CDs nicht an, lese kaum Reviews.

Hast du mal einen Manager gehabt?

Mario Rechtern: Nein, nein. Was für mich wichtig ist: partners and projects. Ich finde Leute, die wollen was zu tun – und dann machen wir’s auch.
„Partner und Projekte“ finde ich eigentlich auch als Schluss sehr gut. Damit wären wir im Grunde wieder beim Anfang des Interviews und  den Überraschungen beim Abwarten, beim breathing und ohne Vorwegnahmen auf sich zukommen lassen, was kommt oder eben nicht. So ist das nun mal.

Fotos: Klaus Pichler