30 Jahre Vienna Art Orchestra

Als man Ideale in Utopien umzusetzen begann – Von der Genesis des Vienna Art Orchestra und den zahlreichen Gruppen und Musikern, welche das Umfeld der postmodernen Big Band zur Szene machten. Mit ein paar Erinnerungen von Otmar Klammer.

Alles hat eben seine Zeit. Scheint die Zeit für etwas vorbei zu sein, gibt es für den wachen Geist nur mehr zwei Möglichkeiten: Entweder die Zeit Zeit sein zu lassen und es hinzunehmen, dass eben alles seine Zeit hat. Oder die Zeit als stete Herausforderung zu betrachten, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Für eine Jazz Big Band wie es das Vienna Art Orchestra heute ist, ist dies schwieriger. Man will eine seriöse Jazzband mit zeitgeistigen Arrangements sein, andererseits wollen viele das geprüfte Orchester immer noch an der Originalität der frühen Jahre messen. Und das, obwohl die Klangkörper von damals und heute grundverschieden sind. Platten wie etwa “From No Time To Rag Time”, das “Concerto Piccolo”, “The Minimalism of Eric Satie” oder das auf Doppel-CD wiederveröffentlichte Album “Tango from Obango” werden heute noch wie aus der Pistole geschossen mit dem VAO verbunden und sind sogar in den Plattensammlungen der Kulturschickeria zu finden. Dass manch neuere Produktionen dagegen weniger wahrgenommen werden, bisweilen auch austauschbar zu sein scheinen, ist nicht zwingend die Folge ihres Inhalts, der sich sogar meist profunder und in der Ausführung perfekter mit der jazzgeschichtlichen Aufarbeitung beschäftigt, sondern wohl auch eine Folge der allgemeinen Produktionsflut, in der vieles untergeht. Die Beschäftigung mit einem neuen Plattenalbum war vor dreißig Jahren intensiver, ausdauernder als im Zeitalter der Wahrnehmungsbeschleunigung. Das wiederum relativiert den Begriff der Originalität.Als die Band 1977 von den wackeren Freunden Mathias Rüegg und Wolfgang Puschnig nach und nach zusammengestoppelt wurde, war Wien musikalisch eine tote Stadt, einerseits. Andererseits war überall in den größeren Städten des Landes eine Zeit des Aufbruchs zu spüren. Die 68er lagen schon weit zurück und die Götterdämmerung des Rock Age war längst hereingebrochen. Die Ideologien der Studentenbewegung und der Flower Power Generation wichen dem Intellekt der späten Avantgarde, die man allmählich als Postmoderne zu bezeichnen begann. Das neue Bildungsbürgertum war offen für alles, was neu und schräg war. Hauptsache, es hatte genug Komplexität, um darin auch seine persönlichen geistigen Eitelkeiten verstecken zu können.
Müßig zu erwähnen, dass ein spielwitzig postmoderner Orchesterhaufen, dessen bisweilen anarchistische bis chaotische Elemente letztlich auch den baldigen Zusammenbruch der ersten Formation evozierten, keine bessere Zeit hätte finden können. Es war gewissermaßen die letzte Gelegenheit, um schon als Kultband geboren zu werden. Spätere Kultbands waren nur mehr eine Erfindung der aufkommenden Musikbeilagen der Medien. Bei allem Respekt der Pionierarbeit seiner Proponenten gegenüber bleibt das Vienna Art Orchestra vornehmlich dennoch ein Kind der Zeit. Und wie alle Musiker und Bands, die damals Kultstatus erlangten, erwarb sich auch das Vienna Art Orchester den Reiz des Subversiven im Underground. In Wien war daran das Etablissement einer gewissen Jazz Gitti nicht unbeteiligt.

Einmal, so erinnern wir uns gerne, zwängten wir uns am Busen der Wirtin, die meist auch an der Kasse saß, vorbei, um einen kleinformatigeren Vorläufer des VAO zu hören, in dessen Zentrum sein späterer Vibraphonist Woody Schabata auszumachen war.
Das Orchester war also vorerst mehr ein führender Exponent der Wiener Subkultur mit einem gewissen Hang zu losen Happenings. Und als solcher so etwas wie die intellektuelle Alternative zur schon länger bestehenden, schrill aktionistischen Rockband Drahdiwaberl, rund um einen von allen Mittelschülern Österreichs verehrten Lehrer. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch das VAO praktisch von der ersten Stunde an seine Musik in Spartenübergreifende Konzepte zu packen versuchte. Wir erinnern uns etwa an das Multimedia-Ereignis (der Begriff “event” war damals noch ein einfaches unschuldiges Vokabel)  “The 8th Day”, das man im Rahmen der Wiener Festwochen mit nicht weniger als hundert Teilnehmern aufführte. Darunter eine Brass Band, ein Chor, Tänzer und Pantomimen, Lichtdesigner undsoweiterundsofort…
Zwar hat die Band dieses multimediale Großformat nie wieder angestrebt, doch lassen sich visuelle Konzepte vom Lichtdesign zu einfacheren Projektionen bis hin zum aktuellen Jubiläumsprogramm, der Trilogie “American Dreams”/”European Visionaries”/”Visionaries & Dreams” verfolgen. Wobei man Träume und Visionen hier auch als die ernüchternde Bilanz einer Selbstbetrachtung deuten könnte.

Als das VAO seine ersten zaghaften Schritte in die österreichische Provinz setzte, war das Orchester bereits eine Plattform für eine Reihe talentierter und risikofreudiger junger Wiener Jazzmusiker. Nicht wenige davon mit Grazer Vergangenheit, allen voran natürlich dessen Leiter und Arrangeur Mathias Rüegg, der, aus der Schweiz kommend, in Graz auf den Jazz eingeschworen wurde (noch heute lässt er seinen Mentor, den Pianisten André Jeanquartier grüßen). Auch die erste Vokalistin der Band, die US-Amerikanerin Lauren Newton, heute längst in Diensten der internationalen Improvisationsszene, studierte an der Jazzabteilung der damaligen Grazer Musikhochschule (heute Kunstuniversität), wo sie später als Lehrbeauftragte Spuren in der Szene hinterließ.
Viele Musiker fanden mit dem VAO ein Projekt, mit dem sie sich einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren konnten. War doch das mittlerweile schon als Elitetruppe apostrophierte Orchester längst durch alle österreichischen Bezirksstadtsäle, Jugendhäuser und Vorläufer späterer Kulturzentren gezogen und am Sprung zum internationalen Exportartikel mit dem Gütesiegel des Musiklandes Österreich.

Durch den enormen Erfolg, den das Orchester in der Folge hatte, blieb für die einzelnen Musiker immer weniger Zeit, sich ihren eigenen Projekten zu widmen. Erst um die Mitte der 80er Jahre begannen einige, das Etikett “VAO-Musiker” abzulösen und ihre eigenen musikalischen Ideen umzusetzen. Wobei viele von ihnen dennoch auf beiden Hochzeiten zu tanzen pflegten. Ermuntert durch ein am internationalen Parkett errungenes Selbstbewusstsein, inspiriert aber vor allem durch den kreativen Geist, der damals von Produktion zu Produktion durch das Orchester wehte und zahlreiche Konzeptalben zu Tage förderte, entstanden viele Ensembles und Gruppen, die heute zum Teil selbst schon kleine Legenden sind. Allen voran vielleicht die Gruppe Airmail (mit Harry Pepl, Wolfgang Puschnig, Mike Richmond, Robert Riegler und Wolfgang Reisinger), das Trio Depart (mit Harry Sokal, Heiri Känzig und Jojo Mayer), das wiedervereint seit dem Vorjahr ein großes Comeback feiert. Die Pat Brothers (mit Linda Sharrock, Wolfgang Puschnig, Wolfgang Mitterer und Wolfgang Reisinger) oder das von Lauren Newton angeführte Vokalquartett “Timbre” (u.a. mit Hansdampf in allen Gassen Bertl Mütter), das bis heute existiert und immer wieder mit namhaften Haudegen der Impro-Szene neue Klangspektren auslotet.

Freilich gab’s in der langen Geschichte auch mehrere Gruppen, die über eine eher kurze bis sehr kurze Band-Geschichte nicht hinauskamen. Plötzlich gab es das Quintett “Fian”, das mit dem gleichnamigen Album für recht gehöriges Aufsehen sorgte. Abgesehen davon, dass wir diese Schallplatte soeben zielsicher aus unserem Archiv heben konnten, schwelgen wir kurz wieder in Erinnerungen. In Erinnerungen an den Sommer 1987, als der kraftvolle High Note-Trompeter Karl “Bumi” Fian, dessen tragischer Tod sich nun bald zum zweiten Mal jährt, beim Jazzfestival in Wiesen seine erste eigene Band vorstellte. Der gehörte u.a. der Gypsy-Gitarrist Harri Stojka an sowie Wolfgang Reisinger, an dessen Trommelkunst damals offenbar kaum eine Band im VAO-Umfeld vorbeikam. Das gefeierte Band-Debüt bescherte Bumi postwendend das Angebot von PolyGram, eine Platte für das Label Amadeo einzuspielen. Der Produzent war übrigens – Wolfgang Reisinger.
Doch Fian ist nur einer in einer langen Reihe ehemaliger Mitglieder des Vienna Art Orchestra, die einen allzu frühen Tod gestorben sind. Der Lead-Trompeter Hannes Kottek, der selbst ein eigenes Quintett gegründet hatte, und der Posaunist Danilo Terenzi starben im Jahr 1995 unmittelbar hintereinander. Ihnen folgten die Sängerin Cornelia Giese (2000), der Vibraphonist und begnadete Komponist Werner Pirchner (2001) und schließlich der Gitarrist und Meister der Improvisation Harry Pepl (2005).

Langlebiger und international erfolgreicher als die Fian-Band waren Projekte wie die drei jeweils hochkarätig besetzten Auflagen des Oktett Ost von Christian Muthspiel, der noch bis vor drei Jahren dem Vienna Art Orchestra angehörte. Andere – mehr oder weniger lange – Mitglieder wiederum suchten ihr Glück gleich in der internationalen Szene in Übersee, wie etwa der Schweizer Schlagzeuger Joris Dudli, der in den späten Achtzigern sein New York Project startete, um dann mit dem Quartett des Saxophonisten Vincent Herring jahrelang auf Tournee zu gehen. Ebenfalls nach New York zog es auch Peter Herbert, der sich nach langen Jahren als Freelancer zu dem heute international wohl bekanntesten österreichischen Bassisten hinauf gespielt hat.
Direkt mit dem VAO verbunden war freilich der Vienna Art Choir, der auch von Mathias Rüegg selbst aus Mitgliedern des Orchesters und des Wiener Schönberg Chors gegründet und von 1983 bis 1987 von ihm geleitet wurde.

Gleich ein eigenes Kapitel wurde indes mit dem Abgang des Gründungsmitglieds und Urgesteins Wolfgang Puschnig aufgeschlagen. Der einst führende Solist der Band, der bereits während seiner langjährigen Mitgliedschaft in zahlreichen Filialbands des VAO spielte, brach im Jahr 1989 zu einer erfolgreichen Solo-Karriere auf, die durch eine Vielzahl unterschiedlichster Projekte und ein buntes Oeuvre gekennzeichnet ist und erst dieses Jahr durch die großzügige Jubiläumsbox “Things Change” gewürdigt wurde.
Die Liste der Projekte und Musiker, die sich im und aus dem VAO heraus entwickelt haben, ließe sich noch weiterführen. Doch schon ein Ausschnitt zeigt:  Die Bedeutung des Vienna Art Orchestra reicht weit über die eigene Geschichte und der damit verbundenen musikalischen Entwicklung hinaus. Vielleicht wäre Wien auch ohne dieses Orchester aus dem Dornröschenschlaf der Siebziger erwacht, und vielleicht hätte die Gunst der allgemeinen Aufbruchsstimmung gereicht, um irgendeine Jazzszene wieder anzukurbeln. Aber eben nur irgendeine. Mögen die Nischen der Individualität weniger geworden sein, die Nachhaltigkeit des Impetus, den Mathias Rüegg und die Seinen weiland gesetzt haben, kann nicht groß genug eingeschätzt werden. Und so mag es auch kein Zufall sein, dass es mit der JazzWerkstatt Wien heute zwar kein Nachfolge-Orchester, aber eine beispielhafte Musikerselbstorganisation mit großem produktiven Output gibt, die schon auf ganz Österreich ausstrahlt.

 

Für oder im Vienna Art Orchestra zu spielen, war für alle Musiker stets Auftrag, Herausforderung und Ehre zugleich. Nach Hundertschaften gelesener Musiker-Biografien, die ja zu den unabdingbaren trockenen Seiten im Leben jedes Musikjournalisten zählen, wissen wir auch, dass niemand, der für dieses Orchester auch nur jemals einen Kabelkoffer getragen hat, diese Referenz nicht an vorderste Stelle gereiht hat. Und niemand, so berichtet die Überlieferung, hätte bislang eine einschlägige Einladung des Kapellmeisters abgeschlagen.
Während freilich viele die Band im Laufe ihrer 30-jährigen Geschichte freiwillig verlassen haben. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

aktuelle CDs
Vienna Art Orchestra
Trilogy. The 30th Anniversary Box
(3CD-Box, Universal)

 

gerade erst erschienen:
Vienna Art Orchestra
All That Straus Vol. 2
(Art Records/Hoanzl)

 

Foto VAO: Archiv Wolfgang Grossebner / SENS – Multimedia-Inszenierung für die Wiener Festwochen 1987